Die Gebiete in Caldrien > Engonia - die einstige Kaiserstadt
Tiors Tempel in Engonia
Vanion:
Dareios hatte nach der Schlacht endlich die Zeit gefunden, seine Wunden verbinden zu lassen. Er war Kassandra und Kassos in den Kampf gefolgt und hatte das Gefühl des Kampfrausches in seinen Adern genossen.
Der Novize schritt durch die hohen Säulenhallen des Tempels. Bewundernd wanderten seine Blicke durch die Räume, gedankenverloren begab er sich tief ins Innere des Tempels. Als er durch einen kleinen Durchgang schritt,
bemerkte er vor sich die Lupa Cruenta. Er folgte ihr, neugierig geworden, was die alte Wölfin vorhatte. Dareios vermutete, dass sie ihn längst bemerkt hatte - aber da sie nichts sagte, schloss er daraus, dass er wohl willkommen war - wenn man
dieses Wort in so einer Situation denn benutzen konnte. Er trat in den Eingang der Kaverne.
Kassandra Wolfsgeheul:
"Beginn der blutigen Exerzitien!"
Die Priesterin intonierte die Gebete die sie durch die Stufen der Trance führten und entledigte sich nach und nach ihrer Kleider und Waffen bis sie schließlich barfuss in Hemd und Hosen und nur mit dem silbernen Dolch im Zentrum der Kaverne stand. Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern und die Kaverne warf das Echo vielfach zurück so dass der Eindruck eines Chores entstand welcher das Lob Tiors sang.
Sie opferte ihr Blut tropfenweise aus ihren Händen, ihren Armen, ihren Schultern. Aus ihren Füssen, ihren Beinen und der Stelle über ihrem Herzen. Zuletzt, unendlich vorsichtig, durch einen oberflächlichen Schnitt an ihrer Kehle. Sie sank auf die Knie, legte den Dolch mit einer Verbeugung vor sich ab und spreizte die Arme zum Gebet.
Stille senkte sich herab.
Eine vollkommene Stille, die Dareios Atem unangenehm laut in seinen eigenen Ohren erschienen ließ. Etwas in ihm rief ihm zu die Kaverne zu betreten, aber er wusste mit unerschütterlicher Gewissheit das es seinen Tod bedeuten würde. Gleichzeitig konnte er sich nicht von der Schwelle wegbewegen. Es war als ob seine Füsse festgenagelt waren.
Es war eine ungeheure Intimität in diesem Augenblick wo Kassandra sich all ihre Panzer und Fassaden entledigte und ihrem Gott ihr Innerstes offenbarte auf das er über sie richte.
Aus dem Inneren der Kaverne kam Bewegung und noch bevor er sicher sein konnte ob ihm die flackernden Schatten nicht einen Streich spielten schälte sich ein geisterhafter Wolf daraus hervor.
Er schritt auf die kniende Frau zu und begann ihre Wunden zu lecken.
Vanion:
Ein Schauder lief über Dareios' Rücken, mit aufgerissenen Augen starrte er auf die beiden Gestalten in der Kaverne.
Er spürte die Macht, die von dem Tiorswolf ausging. Das Tier, wenn es denn eines war, strahlte eine gewaltige Kraft und eine unbändige Wildheit aus.
Dennoch lag in der Art, wie es die Wunden der Lupa Cruenta leckte, fast schon etwas... zärtliches?
Dareios wurde langsam klar, was geschehen war. Kassandra hatte Tior ihr Inneres preisgegeben. Jedes Detail ihrer Seele, selbst den kleinsten Schatten.
Durch das Blutopfer war sie, so vermutete der Novize, in direkten Kontakt mit dem Herrscher über Blut und Feuer getreten.
Der junge Mann empfand nichts als Ehrfurcht vor dem Wolf. Und doch konnte Dareios ein weiteres Gefühl in seiner Seele ausmachen: eine unterschwellige Bedrohung.
Wenn es Tiors Wille oder allein schon der Wille Kassandras war, so würde der Novize den Weg zu Tior finden. Direkt und ohne Umwege.
Kassandra Wolfsgeheul:
Wieviel Zeit verging war ungewiss. Der Wolf umkreiste die regungslose Gestalt der Priesterin, ob eine Zwiesprache statt fand konnte Dareios nicht erkennen.
Etwas veränderte sich.
Das Licht wurde dunkler, es war als ob die Flammen verlöschen würden. Aber sie brannten unverändert vor sich hin.
Die Qualität der Luft änderte sich, es war als ob alles darauf warten würde Luft holen zu können.
Kassandra regte sich. Der Wolf nahm sachte ihren Nacken ins Maul und wandte sich dann ab um mit den Schatten zu verschmelzen.
Nach einigen Schritten wandte er sich ein letztes Mal um.
Und blickte über Kassandras Schulter hinweg Dareios direkt an.
Vanion:
Dareios konnte den Blick nicht von den brennenden Augen des Wolfes abwenden. Er spürte, wie sein Innerstes, wie sein Herz und seine Seele offen lagen. Ein Gefühl der Hilflosigkeit durchfuhr Dareios, gefolgt von einer übermächtig scheinenden Bedrohung, die ihn drängte, wegzulaufen. Und doch blieb er stehen und erwiderte den Blick. Die Zeit schien für den Novizen stehen zu bleiben, jedes Staubkorn, das in der Luft lag, drang plötzlich mit schneidender Helligkeit in Dareios' Bewusstsein. Seine Sinne schienen allesamt seltsam gestärkt, und doch konnte er all die Schärfe nur verschwommen wahrnehmen. Er wusste, dass er nicht weit genug war, um diese Schärfe der Sinne ertragen zu können. Eindrücke sprangen in seinen Geist, er schmeckte die Temperatur, er roch die Kraft, die von diesem Raum ausging. Und er sah jedes Detail in der Pupille des Wolfes.
Nach Jahrzehnten - oder war es nur ein Tausendstel einer Sekunde? - wandte sich der Wolf endgültig ab und wurde eins mit den Schatten.
Keuchend sank Dareios auf die Knie.
Navigation
[0] Themen-Index
[#] Nächste Seite
[*] Vorherige Sete
Zur normalen Ansicht wechseln