Hier und dort: In Engonien und außerhalb des Kaiserreiches > Geschichten und Gespräche

Ein Dorf.

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Vanion:
Vanion war schon viel zu lange hier.

Es brannte ihm in den Fingern, etwas zu unternehmen, aber er wusste nicht so recht, was. Lorainne war verschwunden, nur vage hatte sie über ihre Richtung gesprochen. Follye schien es zu sein...
Er nahm einen kräftigen Schluck Bier aus seinem irdenen Becher, dann knallte er ihn umgedreht auf den Tisch. Diese Geste hatte er  sich bei leeren Bechern irgendwie angewöhnt. Er stapfte raus aus seiner kleinen Hütte und schaute kurz in die Abenddämmerung. Die Tage waren lang geworden, die Nächte kürzer - aber endlich nochmal warm. Das Klingen von Metall auf Metall erregte die Aufmerksamkeit des jungen Mannes. Vor dem Amboss der Dorfschmiede stand ein kräftiger Mann, mit freiem Oberkörper und einer Lederschürze um, und schlug mit dem Hammer auf ein glühendes Stück Metall ein, dass die Funken nur so flogen.
"Was wird das?"
"Ein Schürhaken, sieht man doch!"

Vanion:
Tagein, tagaus, derselbe Tagesablauf. Aufstehen, Frühsport, Liegestütze, laufen gehen, Frühstücken, danach nackt im Fluss baden und den Staub des Vormittags abwaschen.

Dann ewige Gespräche mit Jacques, dem Diener Lorainnes, zunehmend mehr auf caldrisch als in der gemeinen Sprache. Er brachte dem jungen Knappen nicht nur die alltägliche Sprache bei, er versuchte auch, ihm Sachen wie Lyrik nahe zu bringen, schien jedoch jeden Tag ein wenig verzweifelter zu werden ob des "schräcklischen Unverständniss" des "tangarianischen Pöbels".

Darauf folgte ein nahrhaftes Mittagessen, nach welchem Vanion jedoch dennoch stets Hunger zu haben schien. Dann, am Nachmittag, ungeachtet des Wetters, Übungen am Schwert, auch mit Jacques. Der kleine Caldrier hatte sich als gewiefter, teilweise sogar hinterhältiger Kämpfer erwiesen. "Je suis un kleinär Mann, also trettte isch dir eben deine Männlischkeit zu Brei, wenn isch grade an deine schöne Knabengesischt nischt drankomme. Schlachten sind so!". Vanion gewann selten, aber es dauerte immer länger, bis er auf eine meist mehr oder weniger schmerzhafte Art verlor.

Abends ging es dann ans Lesen - Lorainne hatte beschlossen, dem Jungen vom Lande nicht nur ein paar mehr Muskeln zu verschaffen, sondern auch seinen Charakter mit Bildung zu beglücken.
Das Dorf, in dem Jacques und Vanion waren, war zu klein, um eine ordentliche Kneipe zu bieten - nur eine kleine Herberge, wenn man denn drei teure Zimmer mit sauberen Strohbetten so nennen konnte, bot Gelegenheit, neue Leute kennen zu lernen - wenn nicht ständig zwei der drei Betten von Jacques und Vanion belegt gewesen wären.

Mit dem Schmiedejungen hatte sich Vanion einige Raufereien gegönnt - bis Jacques dazwischen gefahren war. "Das ge'örrt sich einfach nischt! Prügel disch nischt zum Spaß! Du bist jetzt etwas Besseres als dieser Kerl! Ver'alte disch dementspreschend!"
Es war nicht einfach, von jemandem, der grade mal zwei Jahre älter war, sich so etwas anhören zu müssen, zumal Vanion es nicht grade gewohnt war, Sachen zu schlucken und stillschweigend zu lernen. Dazu noch dieser schreckliche Akzent! Doch je besser Vanion caldrisch sprechen konnte, desto leichter fiel ihm das gehorchen. Oftmals fluchte er bei ihren Übungsstunden überwiegend auf caldrisch, immer seltener in seiner Geburtssprache.

Am Abend eines dieser ewig gleichbleibenden Tage lag Vanion auf dem Rücken auf seinem Bett. Jacques Bett war leer, er war unten und sah nach den Pferden.
Vanion starrte die Holzdecke des Raumes an und verlor sich ein wenig in seinen Gedanken. Lorainne, was machst du grade eigentlich?, oder Was wird aus mir hier im Nirgendwo?, Wie geht es meinen Eltern, meinen Freunden?, waren nur einige seiner Gedankengänge. Er dachte an Laura, an die Ereignisse in Bourvis, an die Begegnungen in Simons Vorstellungsvermögen. Jeden Abend dachte er sich quer durch sein Leben und die Weltgeschichte, und jeden Abend verstand er sich selbst und die Welt ein bisschen besser. Entscheidungen schienen plötzlich Sinn zu machen, selbst seine eigenen. Auch Lorainnes Entscheidungen waren nachvollziehbar geworden, vieles hatte sich zusammen gefügt. Ein Weg hatte sich abgezeichnet, vom trinkfesten Knaben über den Suffkopf, der gern mit Marius sang bis hin zu dem entschlossenen Widerstandskämpfer, zu dem er im Pilgerzug geworden war. Lorainnes Ritterschlag vor den Mauern Engoniens, Vanions eigene Aufnahme in den Knappenstand - sein peinliches Versagen in Simons stupidem Sturkopf,  das Loslassen dieses dämlichen Steins, Jelenas leiser werdende Stimme -  und die sich langsam schließende Türe, hinter der Lauras Kind verschwand. Auch am Abgrund zu stehen wird manchmal normal, dachte Vanion ohne Selbstmitleid oder Pathos. Er hatte dort gestanden und war entschlossen drei Schritte zurückgewichen. Jetzt galt es, nach vorne zu blicken, und jeden langweiligen, routinierten Tag des Trainings zu genießen.

Schritte, die die Treppe heraufkamen, rissen Vanion aus seinen Gedanken. Jacques betrat den Raum, einen Brief in der Hand haltend und mit der anderen Hand wild gestikulierend, während er lautstark und schnell auf einen weiteren Mann, der hinter ihm die Treppe hochkam, einredete. "Vous ne pouvez pas faire ca! C'est impossible! Imbecile! La chevalière a commander qu'il ne peut pas quitter la village!" Der andere redete leiser und bediente sich nicht des Caldrischen. Nur ein Hauch nordcaldrischen Akzents war aus seiner Stimme zu hören. "Nun gebt ihm den Brief, er ist an ihn adressiert! Lass ihn zumindest lesen, alles andere könnt ihr dann unter euch vereinbaren!" Kurzerhand stand Vanion auf und nahm Jacques mit Nachdruck den Brief aus der Hand.

Verehrter Freund,

wir haben eine Möglichkeit gefunden, Wassilij aus Szivars Reich zurück zu holen. Wir bitten dich nun um seinetwillen um Hilfe. Der Herr der Schatten wird ihn nicht freiwillig gehen lassen und wir brauchen all seine Freunde für dieses Unterfangen!

Gruss,
Galoria Lydia
Gorix Feuerklinge

Sofort traf ihn Jacques wütender Blick.  "Lorainne beschteht darauf, euch 'ier zu be'alten! 'Ier seid Ihr in Sischer'eit und könnt lernen und ein wenig Rü'e finden! Denkt nischt einmal daran! Ihr 'abt jetzt Pflischten!"

Mel:
Weiteres Poltern drang ins zimmer, und eine Gestalt sturzte fluchend herein.
"Merde! Il est mon écuyer et he veux parler avec lui!"
Damit wurde der arme Wirt, der die herrische Frauenstimme samt der Sprache nicht einordnen konnte, zur Seite geschoben und eine Frau in grünem Rock mit weisser Distel stand im Zimmer.
Dunkle Augen schweiften über die Unordnung, unergründlich war der Blick, bis er auf Vanion fiel.
Ein lächeln erhellte ihr Gesicht.
"Vanion. Ich habe fast nicht erwartet, dass du dich meinen Wünschen beugst. umso überraschter bin ich, dass ich Dich tatsächlich hier antreffe. Berichte, wie ist es Dir ergangen?"
Lorainne war schmaler geworden, und ihr Lächeln schien eine Maske zu sein, hinter der ihre wahren Sorgen verborgen waren.
Und doch war die Freude uverkennbar, mit der sie Jacques und Vanion begrüsste.

Vanion:
Vanion ließ den Brief sinken. Sein erster Impuls war es, Lorainne freundschaftlich zu umarmen, jedoch erinnerte ihn Jacques spitzer Ellbogen in seiner Hüfte daran, wie man als Knappe seinen Ritter zu begrüßen hatte.  Er stellte sich grade hin und verbeugte sich höflich.

"Mademoiselle ma chevaliére, c'est une plaisier pour moi de.." er kam leicht ins Stottern und setzte unbeholfen fort. "..de avoir vous ici."  Ihm entging nicht der amüsierte Zug um Lorainnes Mund.
Als er ihr Gesicht näher betrachtete, fielen ihm sanfte, aber doch sichtbare Augenringe auf. Lorainnes Augen schienen härter geworden zu sein als zuvor, und sie wirkte angespannt. Die Schultern etwas hochgezogen, eine Hand wachsam an den Dolchgriff gelegt - er ahnte, dass etwas nicht stimmte. Waren die Dinge in Follye schlecht gelaufen? Wo war Lorainne gewesen? Die Zeit hier schien stehen geblieben zu sein, wie lange hatten sie sich nicht gesehen - drei, vier, fünf Monate? Vanion riss sich zusammen.

"Es gibt nicht viel zu berichten. Hier gibt es generell nicht viel, ma chevalière."
Vanion berichtete von seinen Trainingsfortschritten, bemerkte jedoch schnell, dass das Jacques missfiel.
"Ich glaube, es ist besser, wenn Jacques Euch über meine Fortschritte in Kenntnis setzt - er hat einen objektiveren Blickwinkel. Die Meinung des Lehrers ist immer ehrlicher als die des Schülers."

Lorainne nickte zustimmend und wandte sich Jacques zu, der jedoch darauf bestand, dass Vanion den Raum verließ, damit Jacques völlig offen sprechen konnte.
Als er nach ungefähr zehn Minuten wieder hereingerufen wurde, sah er Lorainne erwartungsvoll an.

Mel:
Lorainne musterte Vanion lange, als er wieder in die Kammer trat, und lächelte zufrieden.
"wie ich höre, machst Du gute Fortschritte, vor allem im Fluchen?!"
Sie schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.
"Nun komm, lass uns zu Abend essen, wir haben vie zu bereden, aber nicht viel Zeit, ich muss morgen früh weiter."

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