Die Gebiete in Caldrien > Das Caldrische Imperium

Das Laviniakloster in Blanchefleur

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Vanion:
Fast ein Jahr später, im Sommer...

Vanions Pferd war müde. Er selbst war müde. Seine Tochter schlief friedlich in dem kleinen Karren, und Jost, einer seiner Jugendfreunde und ein Diener Lavinias aus Fanada, saß bei ihr und las in einem kleinen Buch. Martha, Josts Novizin, hatte die Augen geschlossen, doch war sie wach.

Allen Vieren hatte die Reise zu schaffen gemacht. In den letzten, verregneten Wochen waren sie von Fanada aus in den Norden gereist, über Engonia und Brega, bis hierhin. Der Abschied von seiner Familie in Fanada war ein sehr trauriger gewesen: nur wenige Wochen vor seiner Ankunft war seine Mutter verstorben. Sie war alt gewesen, und nach dem Tod seines Vaters vor zwei Jahren war sie immer stiller geworden. Das Begräbnis hatte bereits stattgefunden, doch im Kreise seiner Schwestern und einiger guter Freunde nahm Vanion gefasst Abschied.

Die Trauerzeit nahm fast zwei Wochen in Anspruch, es galt, viele Angelegenheiten zu regeln, die den Hof betrafen. Pachtverträge mussten umgeschrieben werden, und die Ehemänner zwei seiner Schwestern waren in Streit darüber geraten, wer nun den Hof weiterführen sollte. Kurzum entschied Vanion, dass der dritte Ehemann (in seinen Augen war es auch der Fähigste) die Geschäfte in die Hand nehmen sollte. Er hatte ohnehin den Eindruck, dass dieser Streit recht sinnentleert war: seine Schwestern waren allesamt fähige und resolute Frauen, und sie hatten die Zügel in der Hand.

In langen Gesprächen vor dem Kamin in der alten Küche der Bachlaufs erzählte er seiner Familie, was geschehen war, und was geschehen würde. Niemand war besonders glücklich darüber, dass Jeanne den Hof verlassen sollte, doch sie akzeptierten die Vorteile, die es für Jeanne brachte. Sie war schließlich eine Roquefort, und sie würde mit Leah, der Erbin Roqueforts, aufwachsen. Das versprach Bildung und Sicherheit, genau wie Anerkennung und Respekt. Sie würde es gut haben in Caldrien.

Das kleine Detail, dass sie genauso eine Geisel dafür war, dass Vanion niemals etwas gegen Leah unternehmen würde, wurde geflissentlich ignoriert. Es war allen klar, wie hoch der Preis war - und genauso war allen klar, dass Vanion eher sein Leben für Leah geben würde, bevor er gegen sie handeln würde. Doch dieses Thema wurde nicht angesprochen. Es war wahrscheinlich das letzte Mal, dass Vanion seine Familie sah, und man Zeit hatte, sich in dieser Tiefe auszutauschen. Er war nun einmal wahrhaftig kein Bauer, und hier gehörte er nicht hin.

Der Abschied von seiner Familie war traurig gewesen und hatte sich endgültig angefühlt. Er würde diesen Hof nicht mehr aufsuchen. Die Trennung ging tiefer als sonst: er und seine Tochter gehörten nach Caldrien. Seine Schwestern jedoch waren Bauern aus Tangara.

Für die Reise hatte Vanion Jost und Martha aus dem Tempel gebeten, sie zu begleiten. Mit einer größeren Gruppe war es sicherer, und Jeanne kannte die beiden und fühlte sich sicher bei ihnen. Jost wollte ohnehin seine caldrischen Glaubensbrüder und -schwestern besuchen, und Martha las seine Novizin war rasch mit von der Partie. Zu viert brach man also auf.

In Brega hatte Vanion vom Tod des Ferdi Weidenfels gehört, und obwohl er den Mann nicht wirklich gekannt hatte, war er traurig geworden. Der fröhliche Bürgermeister hatte manchmal selbst hinter dem Tresen in Brega gestanden, und auch bei manch anderer Feierlichkeit hatte er gute Laune verbreitet. Und nicht zuletzt war er in nicht bescheidenem Maße am Wiederaufbau Brega beteiligt gewesen.

In Brega waren sie mehrere Tage geblieben. Die Gerüchte, die herumgingen, sprachen davon, dass das Feuer, dem Ferdi und die anderen zum Opfer gefallen waren, wohl kein Zufall gewesen sein mochte, und unwillkürlich hatte Vanion an Marie, Jeannes Mutter, denken müssen. Auch sie war bei einem Feuer umgekommen.

Jeanne wiederum hatte Brega genossen. Natürlich - denn Brega war voller Wunder. Bregahölzer, die Alchemisten, die vielen Baustellen, das geschäftige Leben - es war schwer gewesen, sie davon abzuhalten, auf eigene Faust loszuziehen. Fast vier Jahre war sie nun alt, und die Neugierde, die allen kleinen Kindern anzuhaften schien, hatte sie dazu gebracht, ihren Vater fast in den Wahnsinn zu treiben: Papa, können wir uns das Bregaholz anschauen? Papa, ich möchte zu den Achi.. Alchi..Almisten! Papa, was trinkst du da (Bier..) Kann ich auch was davon trinken? (Nein..) Aber ich verdurste sonst!

Am Ende war Vanion sehr glücklich gewesen, als sie von Brega wieder fortgezogen waren.

Und nun waren sie hier. Hinter ihnen neigte die Sonne sich den Baumwipfeln entgegen, und vor ihnen lag das Kloster.

Der letzte Moment, umzukehren, Vanion.

Kurze Zeit später erreichten sie das Tor des Klosters und wurden eingelassen.

Vanion:
Nachdem sie eingelassen worden waren, war ihnen einfaches, aber nahrhaftes Essen serviert worden.
Sie saßen in dem sparsam eingerichteten Speiseraum des Klosters und unterhielten sich gedämpft.
Jost war in ein Gespräch mit einer Nonne verwickelt, lebhaft stritten sie sich über den Lilien-Orden. Jost, dessen Eltern am Tag des Wolfes gestorben waren, hatte den Orden begrüßt. Im Tempel Fanadas hatte er sich sogar recht unbeliebt gemacht, da er, wie es seine Art war, seine Meinung nicht gerade verschwiegen hatte. Die Nonne wiederum schien gänzlich anderer Meinung zu sein, und Martha und Vanion hatten nicht erst einen amüsierten Blick ausgetauscht.

"Er kann sich ganz wunderbar in etwas hineinsteigern, finde ich." Martha hatte sich zu Vanion herübergebeugt und die Worte leise genug gesprochen, um die beiden Streitenden nicht aufmerksam werden zu lassen. Jeanne jedoch, die auf Vanions Schoß saß, hatte jedes Wort gehört, und schon krähte sie laut heraus: "Jost steigert sich gar nicht hinein! Ich mag Jost!"

Die helle, laute Kinderstimme brachte den Streit endlich zum Verstummen, und Jost wirkte fast wie ein ertappter Schuljunge, als er wieder ein wenig näher heran rückte und Jeanne einen Löffel von seinem Eintopf in den Mund schob.

Die Runde unterhielt sich nach kurzer Zeit wieder über unverfänglichere Themen, bis alle aufgegessen hatten. Jeanne war längst eingeschlafen, und sie schnarchte sanft auf Vanions Arm. Ganz der Papa, dachte Vanion, und ein gewisser Stolz erfüllte ihn. Als eine Novizin an den Tisch herantrat und ihn zur Mutter Oberin ins Studierzimmer bat, nickte er jedoch ernst. Sanft und vorsichtig, um sie nicht zu wecken, legte er Jeanne in Marthas Arme. Liebevoll küsste er sie, dann folgte er der Novizin aus dem Speisesaal heraus.

Engonien NSC:
Die Alte sah nicht gut aus. Ihr Rücken war krummer geworden und sie stützte sich schwer auf einen Stock. Vanion konnte sich vorstellen, wie sie ungedultig mit dem Stock auf den Boden klofte, wenn etwas nicht nach ihrem Willen ging.
ALs er den kleinen Raum betrat, sahen ihn ein paar Wache Augen an, die so hell und klar waren, dass sie kaum zu dem runzeligen Äußeren der Laviniageweihten passen wollten.

"Vanion Eidbrecher, der Sippenmörder aus Roquefort. Willkommen!"
Wie immer kam sie schnell zur Sache. Er erinnerte sich an ihre nahe Verwandtschaft zum Vater des jetzigen Barons- obwohl, soweit oben fast jeder mir jedem in ihrendeinem Verwandtschaftsverhältnis stand.
Offenbar war sie über die letzten Geschehnisse im Bilde.
Und doch schien sie freundlich und strahlte eine vertrauenvolle Wärme aus.
"So nennet man Dich hier. Möchtest Du mir sagen, wie Du, der ehrenwerte Knappe einer geachteten Ritterin, zu meistgehassten Mann in Blanchefleur werden konntest?"
Schwer liess sie sich in einen Sessel sinken und bot ihm ebenfalls an, Platz zu nehmen.
Offensichtlich erwartete sie eine Erklärung. Es war wohlmöglich die Einzige Chance, der Mutter Oberin seine Version der Geschichte zu erzählen.
 

Vanion:
Voller Respekt verbeugte sich Vanion.
"Gewiss. Ich möchte Euch die Geschichte erzählen, wie sie geschehen ist."

Sein Blick senkte sich, und seine Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit. Die Worte kamen wie von selbst über seine Lippen. Er erzählte von den Wochen und Monaten im Forêt d'Artroux. Erzählte, dass Lorainne von seiner Abkunft erfahren hatte, wohl hier, in diesem Kloster. Der Konflikt, in den ihn sein Blut stürzte: den Onkel töten, oder den Eid brechen. Seine Erzählung war nüchtern, sachlich, und er bemühte sich, die Geschichte zu erzählen, ohne Dinge zu erwähnen, die besser unerwähnt blieben - wie der Tod Alains. Viel sprach er, und machte nur wenig Pausen, um der Mutter Oberin Gelegenheit zu geben, etwas zu trinken.
Als er an den Abend gelangte, an dem er Lorainne verlassen hatte, stockte er.
"An diesem Abend saß ich alleine in diesem Gasthaus, in dem wir waren. Es war tief in der Nacht, und der Schlaf hatte sich nicht einstellen wollen. Monatelang hatte ich mit mir gehadert, und ich wusste, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Ich hatte, wann immer es möglich war, zu Lavinia gebetet und sie um Rat und Führung angefleht. Aber sie blieb stumm, sprach nicht zu mir. Und so entschied ich mich endlich, und ich dachte, meine Entscheidung wäre laviniagefällig und wohl getan. Ich opferte alles, was ich erreicht hatte, um nicht gegen die Mutter zu sündigen."

Jetzt griff er selbst zu dem Kelch, der für ihn gebracht worden war, und befeuchtete seine trockene Kehle.

"Nun, so dachte ich jedenfalls. Mit jedem Tag und jeder Woche, die verstrich, fürchtete ich mehr um das Leben meiner Freunde. Ich warf mir vor, falsch gehandelt zu haben, stellte meine Entscheidung in Frage. Ich war zurück nach Tangara gereist, und hatte vorgehabt, dort mein Leben weiter zu leben. Aber so einfach war es nicht. Und am Ende stieg ich erneut auf mein Pferd und brach auf, in den Norden. Dort hörte ich von der Hochzeit zwischen Lorainne und Savaric, und dass sie gleich am nächsten Tag stattfinden solle. Also trieb ich mein Pferd an, und ohne Rast ritt ich nach La Follye. Das Tor war unbewacht, und ich kam noch rechtzeitig, um das Duell der beiden zu bezeugen. Um den Verrat meines Onkels zu bezeugen. Lorainne gewann den Kampf, doch anstatt ihn zu erschlagen, bot sie ihm die Hand zur Freundschaft. Und er - er lachte, packte Lorainne und hielt ihr ein verborgenes Messer an den Hals. In dem Tumult, der dann ausbrach, war ich der erste, der zu den beiden gelangte. Savarics Messer steckte in Lorainne, und ich packte es und stieß es ihm in den Hals."

Das Schweigen, das nun im Raum stand, war brutal. Unsicher versuchte Vanion, dem regungslosen Gesicht der Laviniageweihten irgendetwas zu entnehmen, doch es gelang ihm einfach nicht. Sein eigener Gesichtsausdruck war verkrampft, und man sah ihm an, dass ihm die Meinung der Mutter Oberin sehr wichtig war. Wenn ich den Dienerinnen der Gottheit schon nicht zeigen kann, dass ich kein schlechter Mensch bin, wie soll ich es dann Lavinia selbst beweisen? Kurz durchzuckte ihn das Bild des Totenmeeres, wie er es sich vorstellte: tiefschwarze Wellen, von Horizont zu Horizont, und er selbst versank langsam darin. Während er auf ewig ertrank, wurde das Licht der Götter, das auf das Totenmeer schien, immer schwächer und schwächer, bis nur noch drückende Stille und Dunkelheit um ihn herum war. Bis er starb, und doch nicht starb, denn er war verflucht und ertrank ewig auf dem Grund des Totenmeeres.

Er verzog sein Gesicht, als er diese Vision mit Gewalt zu Seite drängte, und sprach gequält:
"Ich wollte meinen Freunden helfen. Ich wollte Gerechtigkeit. Und ich wollte die Schande, die auf mir lag, fortwaschen - und tat es mit dem Blut meines Onkels. Die Diener Alamars verziehen mir meinen Eidbruch. Flamen Magnus Damian aus Voranenburg hat sich meine Geschichte angehört, und fällte das Urteil über mich. Doch das ich mein eigen Fleisch und Blut auf dem Gewissen habe, das wird Lavinia mir nicht verzeihen. Doch bitte ich Euch, Mutter Oberin - ich bin nicht hier, um Vergebung zu erlangen. Ich bin hier, um Euch und unser aller Mutter meine Tochter anzuvertrauen. Beurteilt Jeanne nicht nach Ihrem Vater."

Engonien NSC:
Sie hörte aufmerksam zu, runzelte gelegentlich die Stirn und nickte ihm an anderen Stellen ermunternd zu.
Nachdem er geendet hatte, schwieg sie.
Man hätte fast glauben können, sie sei eingeschlafen, doch dann schaute sie ihn direkt an.
Ihr Blick war klar und ... irgendwie verärgert.
"Vanion, mir scheint, Du hast Lavinias Wesen nicht verstanden. Wenn Du Gerechtigkeit willst, solltest Du zu Alamar beten. Lavinia recepta nimmt jede Seele auf, die bereut, ob es gerecht ist, oder nicht. Wer so boller Falschheit ist, wie dieser Roquefort, der verdient es nicht, ins Reich der Götter zu gelangen, wenn man nur nach Gerechtigkeit verlangt. Es ist das Wesen der Gerechtigkeit,  dass sie oftmals unmenschlich ist. Aber das ist kein Weg Lavinias. Und wenn eine falsche Seele im rechten Moment bereut und azfrichtig ist, dann findet sie Frieden durch Lavinias Gnade. "
Ihr Ton war, als erklärte sie einem Kind etwas,
Ruhig. Belehrend. Gütig.
Gnädig mit Unwissenden.
"Und wenn Du glaubst, och messe die Töchter, die mir anvertraut wurden an den Taten ihres Vaters oder sonstiger Familienmitglieder, wie eines Onkels, dann sieh zu, dass du dieses Kloster verlässt, denn Du solltest mich besser kennen."

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