Hier und dort: In Engonien und außerhalb des Kaiserreiches > Geschichten und Gespräche
Allein in der Dunkelheit
Mel:
Ihre Gedanken schweiften ab, zu längst vergangenen Tagen.
Es war ein sonniger Tag und sie tobte mit ihrem Bruder über die Wiesen, als zwei Männer die Straße entlang ritten. Freudig stürmten die Kinder auf sie zu.
"Papa, Papa!"
Sie rangelten, jeder wollte als erstes bei den Männern ankommen, der eine in grün- weiss, der andere in schwarz mit einer leuchtend gelben Harfe auf der Brust.
Knapp verlor sie gegen ihren Zwillingsbruder, der lachend vom Vater auf das Pferd gehoben wurde.
Traurig schaute sie zu dem anderen Mann und streckte ihm die kleinen Ärmchen entgegen.
Der Mann mit der harfe sprang vom Pferd, verbeugte sich vor ihr und hob das jauchzende Kind hinauf:
"Je suis un chevalier! Regarde Antoine. Je vais etre un chevalier. comme toi!" verkündete sie stolz.
Ihr Bruder schüttelte bestimmt den Kopf: "Les filles ne seront jamais chevaliers. N'est pas, Simon?"
Ja, es war ihr nicht bestimmt gewesen, und doch war sie jetzt hier, aller Widerstände zum Trotz.
Von Simon selbst zum Ritter geschlagen.
Chevalier Lorainne de la Follye des Joux.
Mel:
Die Dunkelheit schärfte langsam ihre Sinne. Sie nahm jedes, noch so kleine Geräusch wahr, roch jede Veränderung in der Luft.
So auch jetzt.
Sie hörte eine männliche Stimme, die ihr vage bekannt vorkam. Flehen, Gebete, einen Schrei.
„Qui est là?“
Doch ihre Frage blieb unbeantwortet. Dann landete etwas mit einem dumpfen Geräusch neben ihr.
Verschiedene Gerüche stiegen ihr in die Nase. Erbrochenes, Angstschweiß und etwas anderes, Vertrautes.
Lorainne schloss die Augen, obwohl es in der Dunkelheit keinen Unterschied machte, ob ihre augen geschlossen oder geöffnet waren.
Doch es half ihr, sich zu konzentrieren.
Jemand WAR in ihrer Nähe. Wahrscheinlich ebenfalls gefangen.
Während des Krieges, wenn ihr die Wirklichkeit zu brutal erschien, wenn sie Heimweh hatte oder schlicht Angst und sie von Alpträumen geplagt wurde, hatte sie oft die Augen geschlossen und war in ihre eigene Welt eingetaucht.
Manchmal reichte ein kurzer Moment und die Erinnerung an Zuhause, manchmal, wenn sie Angst hatte, sich nicht mehr erinnern zu können, stellte sie sich jedes einzelne Gesicht, das sie kannte vor, murmelte die dazugehörigen Namen und hörte die Personen fast schon Sprechen.
Sie begann mit den Menschen, die ihr am nächsten standen.
Simon, Vanion, Damian, Gorix, Maugrim, Kassos....
Jedes Gesicht tauchte vor ihr auf und es war fast so, als wären sie alle wieder vereint, so wie damals, beim Pilgerzug, als sie gemeinsam lagerten, aßen, kämpften und feierten.
Es hatte etwas tröstliches, doch die Stimme in der Dunkelheit schien zu niemanden zu gehören.
Wer war da bei ihr?
Mel:
Die Gebete waren verstummt, als sie aus den seltsamen Träumen erwachte.
Es war, als wäre eine immense Last von ihr abgefallen.
Die Trauer um ihre Leute, um Vanion war abgefallen, und hatte Platz gemacht für etwas anderes, grausameres.
Lorainne war erschrocken über sich saelbst, doch sie wusste, dass dieses Gefühl sie am Leben halten würde.
Wenn sie sich erst aus ihrer Lage befreit hatte, würde sie diejenigen, die den Tod über vanion, Erik, Jacques und die anderen gebracht hatten, zur Verantwortung ziehen.
Egal wie lange es noch dauern mochte.
Mel:
"Los, hoch mit Dir."
Sie musste eingeschlafen sein, denn sie hatte niemanden kommen hören.
Grob wurde sie hochgezogen und endlich zog man ihr den Sack vom Kopf.
Gierig sog sie die frische Luft ein- ohne den modrigen Geruck von steifem, alten Leinen.
Als sie sich umsah, entdeckte sie etwas von sich entfernt einen leblosen Körper am Boden, ringsum Blut.
Die Umgebung kam ihr vage bekannt vor, doch es war tiefschwarze Nacht, so dass sie nicht viel erkennen konnte.
"Wer seid ihr? Für wen..." weiter kam sie nicht, als ihr ein harter Schlag in den bauch alle Luft aus den Lungen entweichen ließ.
"Das wirst Du schon noch erfahren. Und lass Dir gesagt sein: Dein Schreien wird hier niemand hören."
Mel:
Sie hatte nicht geschrien.
Vor Überraschung hatte sie keinen Ton heraus gebracht, als ER vor ihr stand.
Unfähig, die Fragen zu stellen, die ihr durch den Kopf schwirrten.
Doch die Überraschung war sehr schnell Ekel und Angst gewichen, als sie registrierte, wie er sie ansah.
Haßerfüllt, hämisch, lüstern.
Während sie sich den Kopf über den Sinn ihrer Entführung zerbrach, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab- sie konnte sich nicht konzentrieren, zu hart lag ihr der Klumpen der Angst im Magen.
Würde er sie anrühren?
Sie betete zu den Göttern, dass er keine Gelegenheit dazu haben würde und dass endlich jemand nach ihr suchte und sie bald finden würde.
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