Hier und dort: In Engonien und außerhalb des Kaiserreiches > Geschichten und Gespräche
Auf Reisen.
Vanion:
Vögel zwitscherten vom Himmel herab. Die Sonne schien hell, aber nicht allzu warm auf die unter ihr liegende Welt. Ein frischer Wind strich durch die Baumwipfel. Blätter färbten sich langsam golden, rot und braun - der Herbst war da. Rehe streiften durch den Wald, die Nase nah am Boden, nach Nahrung schnüffelnd. Ein Eichhörnchen huschte eine schlanke Birke hinauf.
Vanion lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel. Er lauschte in diese geschäftige Stille hinein. Seit drei, vier Wochen war er nun hier. Über die Zeit war ihm ein leichter, unregelmäßiger Bart gewachsen. Dreck klebte unter seinen Fingernägeln. Doch hier war es auszuhalten. Niemand störte. Trinkwasser und eine Gelegenheit zum Waschen boten die schnell fließenden Bäche und ein naher, kleiner Weiher. Essen lieferte der Wald und die umliegenden Felder.
Südöstlich lag Fanada, und ab und an konnte Vanion Händler beobachten, die auf der nahen Straße in Richtung Norden zogen, um zwischen Tiors Hand und dem Wald von Arden nach Brega zu gelangen, oder weiter noch, nach Caldrien. Caldrien.
Nur wenige Wolken waren zu sehen. Das helle Blau des Weltendachs blendete, und so kniff Vanion die Augen zusammen.
Noblesse oblige.
Hoch am Himmel war ein großer Vogel zu sehen. Ein Bussard? Ein Falke? Vielleicht sogar ein Adler, der seinen Horst in den hohen Bergen im Westen hatte.
Je continue à apprendre. Je ne cesserai jamais d'apprendre. Je ferai ce que la chevalerie et mon seigneur féodal me veut, mieux que je peux.
Plötzlich stieß der Adler, denn das war es, auf seine Beute herab und verschwand aus Vanions Sichtfeld.
Worte. Eide.
Die Bardike lag im feuchten Gras und rostete vor sich hin.
Vanion:
Einige Tage später..
Der Regen prasselte nur so herab. Vanion saß missmutig unter einem Baum, dessen Blätterdach ihn vor dem Gröbsten schützte. Dennoch tropfte Regen auf seinen Schopf, seine Schultern, und rann kalt seinen blanken Rücken herab. Die Beine hatte er an den Körper gezogen, und um sich warmzuhalten, wippte er vor und zurück. Immer und immer wieder glitten Tropfen über seine Stirn hin zu den Augenbrauen, nur um von dort über sein Gesicht zu laufen und endlich zu Boden zu fallen.
Sein Blick, eher ein Starren zu nennen, ging ins Leere. Das beständige Rauschen, das der Regen verursachte, erfüllte seine Ohren. Kalt und mächtig grollte der Donner über den Baumwipfeln. Ab und an zuckte ein heller Blitz durch die Nacht, alles erleuchtend. Jedesmal wurde Vanion geblendet, jedesmal blieb ein Negativabbild der Wirklichkeit vor seinen Augen schweben. Doch er blinzelte nicht einmal. Das Wasser rann an ihm herab. Der Boden war durchtränkt.
Mit einem lauten Krachen schlug ein Blitz nur wenige Meter weg in einen einzeln stehenden Baum ein. Mit einem mörderischen Reißen wurde das Holz gespaltet, der Stamm brach längs entzwei. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde der umfallende Baum Vanion erschlagen, doch die rauchenden Trümmer schlugen ein kurzes Stück vor ihm auf den Boden. Vanion rührte sich nicht einmal. Sein Leben war leer. Ohne Ehre, ohne Loyalität und Vertrauen, ohne Liebe - es machte keinen Unterschied mehr, ob er nun hier war oder sonst irgendwo. Es mochte einen Unterschied für andere machen, doch nicht für ihn. Eine kalte Resignation hatte sich seiner bemächtigt.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufstieg, lächelte sie über die Wolken hinweg die Erde an, als würde alles Unglück der Welt sie nicht berühren. Die warmen Strahlen fielen auch auf einen verkrampften Mann, der völlig durchnässt unter einem Baum saß und vor sich hin starrte.
Die Strahlen brachen sich in kleinen Tröpfchen auf einer stählernen Schneide. Die Bardike lag im feuchten Gras und rostete vor sich hin.
Vanion:
Kalt glitt das Geräusch Vanions Rücken herunter. Die feinen Härchen seiner Haut richteten sich auf, eine Gänsehaut überzog ihn. Es tat in den Ohren weh, und zugleich weckte es Erinnerungen an vergangene Zeiten. Dasselbe Geräusch hatte er am Vorabend der Schlacht um Engonia gehört, tausendfach hatte es das Lager der Pilger durchzogen. Denselben Laut hatte es gegeben, damals in Tiefensee, als man vergeblich auf die Rückkehr der Sturmrufer wartete, das Beste hoffend, das Schlimmste erwartend. Im Wald von Arden, im Forêt d'Artroux hatte es diesen Klang gegeben.
Und wie jedes Mal weckte dieser Klang eine Vorahnung. Die Gestalt der Dinge, die da kommen, sie war so klar umrissen und doch nichts weiter als ein Schatten im Nebel der Zukunft.
Krrrssssssss.
Mit äußerster Ruhe und Präzision führte Vanion immer und immer wieder diese Bewegung aus. Scharf erspähte sein Auge Unebenheiten und die rötliche Farbe, die Schwachstellen verriet. Mit Kraft drückte er den Schleifstein auf die Klinge.
Krrrssssssss.
'Die Mauern sind erstürmt! Seht nur, diese Bastarde! Sie werfen die Waffen fort und laufen, fliehen wie Vieh vor dem Schlächter! Die Zeit der Rache ist gekommen!' Fackeln und Rauch und Feuer und Blut und Tod und Wahnsinn. Blau-gelbe Banner, Blau-schwarze Banner. Blut auf seiner Axt, auf seiner Rüstung, in seinem Gesicht. Der Geschmack von Schweiß und Schmerz im Mund. Da sieht er, wie Männer des Pilgerzugs auf einen Trupp am Boden sitzender Gefangener zugehen. Männer Konars, die sich ergeben haben. Vanion stellt sich vor sie, beschützt die Gefangenen vor der Rache der eigenen Mitstreiter. Seine Augen tränen, die Wut und die Trauer des Kampfes fordern ihren Tribut.
Krrrssssssss. Rot rieselt ein wenig Rost herab auf das grüne Gras.
'Vanion, trink noch einen!' Dylans fröhliches Grinsen bringt Vanion zum Lachen. Sie sitzen in einem Fluss - er und Dylan und noch andere. Mitten in der schnellen Strömung sitzen sie und trinken Bier, die Übel der Welt für einen Moment vergessend. Die Sonne scheint ungetrübt vom Himmel und die Schatten des Täuschers sind nicht zu sehen. Doch unter den Bäumen lauert schon jetzt die Dunkelheit..
'Wer seid ihr?' - 'Die Sturmrufer!' - 'Für wen kämpft ihr?' - 'Für Szivar!'
Dylan, Ashgar, Linnea, sie alle stürzen aus dem Wald. Damian erschlägt einen Mann in rot und gelb, mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht. Fassungslosigkeit macht sich breit. Und über den Leichen krächzen die Vögel.. und am Abend erklingt unerträglich leise das Geräusch eines Schleifsteins, der über eine Klinge gezogen wird.
Krrrssssssss. Diese Scharte hier.. woher kam sie noch gleich? Vanion schüttelt den Kopf.
Aldradach. Laute Musik dringt herüber. Der Weg vom Lager in der Dunkelheit hinüber zur Stadt war nicht ungefährlich, doch Vanion ist froh, ihn geschafft zu haben. Ihn begleiten zwei Männer, die behaupten, etwas über eine Flamina Agathe zu wissen. Er ist euphorisch - endlich eine Spur! Doch plötzlich flammt Schmerz in seinem Hinterkopf auf. Sein letzter Gedanke ist, was für ein vertrauensseliger Narr er doch gewesen war.
Krrrssssssss.
'Ich bereite mich in Blanchefleur auf meine Hochzeit vor, Vanion. Wir treffen uns wieder, wenn es so weit ist. Dann brechen wir gemeinsam auf, um zu Savaric de Roquefort zu stoßen. Jacques wird dich begleiten und deine Ausbildung übernehmen. Und so nahm sie ihren Anfang, die Kette von Ereignissen, die bis heute sein Leben bestimmen sollte. Diese Kette war zersprungen und gebrochen.
Ein letzter, prüfender Blick. Sein Daumen glitt über die Schneide. Keine Spur von Rost war mehr zu erkennen. Das Axtblatt glänzte in der Sonne. Sanft legte Vanion die Waffe beiseite, umsichtig sorgte er dafür, dass das Metall das feuchte Gras nicht berührte, sondern auf einem dicken Stein zu liegen kam. Dann kniete er sich hin und faltete die Hände. Gewiss zwei, vielleicht drei Stunden ruhte er so und ging in sich. Still und leise flehte er Lavinia um Rat und Hilfe an, laut, doch demütig betete er zu Alamar, auf dass der Hohe Gott ihn gerecht und im Lichte seines gesamten Lebens und nicht nur aufgrund einer einzigen Tag beurteilen möge. Kraftvoll drang seine Stimme empor und rief Tior um Stärke und Mut an.
Und mit dem ersten Licht des nächsten Tages ritt er fort. Die Zeit hatte ihm eines gezeigt: er war vieles, aber kein Bauer. Endlich hatte er wieder ein Ziel vor Augen. Die ganze Zeit hatte es offen vor ihm gelegen, ihm hatte lediglich der Mut gefehlt, diesen Schritt zu gehen. Doch es war die einzige Tat, die richtig war. Die seinen Idealen genügen konnte. Denn soviel hatte Vanion erkannt: was andere von ihm hielten, war ihm nicht wichtig. Aber sich selbst nicht in die Augen sehen zu können - das war etwas, was er nicht länger ertragen konnte.
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