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Auf der Reise nach Silvanaja

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Kydora:
Kydora hatte sich gerade wieder auf ihr Pferd geschwungen, da war Rikhard schon vorgeritten. Kopfschüttelnd folgte sie ihm in leichtem Trab bis zur Waldgrenze. Wenig später befand sie sich zu Fuß ein paar Schritte tiefer im Wald, die Stute an den Zügeln führend bei sich, und hielt Ausschau nach Rikhard.
Tief zog Kydora die angenehme Luft ein und sofort weckte der Waldgeruch Erinnerungen an früher.

Etwas abseits von Rikhard lehnte sie sich an einen Baum an und gab dem Magier Zeit und Privatsphäre. Sie konnte nur ahnen, was in dem jungen Silvanajer gerade vorgehen mochte und wollte nicht aufdringlich wirken. Nachdenklich schaute sie nach oben ins Blätterdach, was schützend über ihnen hing.
Wessen Tod war wohl der Nächste, mit dem sie klarkommen werden müsste? Der Gedanke, dass auch Lyra nun fort war, schmerzte. Und natürlich wusste Kydora, dass es nunmal der Lauf der Dinge war… aber fehlen tat sie ihr trotzdem.

„Warte doch wenigstens bis morgen. Schlaf nochmal drüber.“
„Lyra ich weiß, was ich tue. Ich will das jetzt. Wirklich.“

„Kydora…“

„Ich bin mir sicher. Ich mache das jetzt. Vertrau mir.“

Ein müdes Lächeln umspielte ihre Lippen, als die Silvanaja an ihre wirklich sehr spontane Hochzeit mit Robert denken musste. Sie konnte sich noch gut an die Details des Abends erinnern. Waren ihr Lyras andere Augenfarbe damals eigentlich aufgefallen? Und die anderen Unstimmigkeiten zwischen den Beiden? Jetzt gerade sah sie die Fee so klar vor ihrem inneren Auge. Wie sie besorgt vor Kydora stand und diesen ihr so typischen Blick hatte…

Kydora merkte nicht, dass sie mittlerweile auf dem Boden saß und gedankenverloren auf den Waldboden starrte. Es war nicht Lyra in doppelt gewesen. Nein, sie waren stets zwei unabhängige Individuen gewesen. Wie zwei Schwestern. Einander vielleicht ähnlich aber doch so verschieden… Und nun war auch sie fort. Fort wie viele andere ihrer Freunde auch. Und wieder kam ihr die Frage in den Sinn: Wer würde der Nächste sein…?

Rikhard Kraftweber:
Er zog die Hand aus der Erde heraus. Die Hand eines viel jüngeren Rikhards. Eines Rikhards, der sich noch nicht den Namen Kraftweber gegeben hatte. Mit der anderen Hand strich er die Erdkrumen von seinem Handrücken. Tief sog er die Luft ein. Schmeckte das Leben im Boden. Hörte die Vielfalt des Waldes. Spürte den Wind, der über seinen Rücken strich, und all das vereinigte sich mit dem ständigen Gluckern und Plätschern und Rauschen, dass der Fluss Aines, den er spüren konnte, mit sich brachte.

Dann schlug er die Augen auf.
"Und? Wie war es? Sag schon!"
Die Stimme klang glockenhell in seinem Schädel nach, und geschärft, wie seine Sinne waren dröhnte sie laut, aber das machte ihm nichts aus.
"Es war unglaublich! Ich hab's wieder gespürt! Es ist, als würde ich meine Finger in einen kalten Bach halten, als könnte ich mit der hohlen Hand schöpfen, formen, es - es ist toll! Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen, als könnte ich die ganze Welt bewegen! Ich kann kaum erwarten, es meinen Eltern zu sagen! Sie werden so stolz auf mich sein!"

Das fröhliche Lachen, das ihm begegnete, erfüllte ihn mit Stolz und machte ihn glücklich.
"Ja, das werden sie, Rikhard! Es ist ganz schön selten, dass einer von uns diese Fähigkeiten zeigt. Ich frage mich, was der Schamane sagen wird. Er kann wirken, durch die Kraft der Geister, vielleicht kann er dir etwas beibringen!"
Die beiden Kinder sprangen begeistert auf, fassten sich bei den Händen und rannten los.

Rikhards Hand zitterte, seine Knöchel waren weiß. Als er seinen Griff löste, fiel die Erde völlig zusammengedrückt zu Boden. Tränen rannen aus seinen Augen. Die Erinnerungen, so mühsam fortgeschlossen, über Jahre eingesperrt in eine Kiste aus dicken Balken, brach sich Bahn.

"Reiß dich zusammen!"
Die Zähne zusammengebissen, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht zu einem Ausdruck verkrampfter Anstrengung verzogen, war Rikhard nicht in der Lage, dem Schamanen eine Antwort zu geben.
"Wenn du die Kontrolle verlierst, übernimmt es dich! Schließ es ein!"
Und Rikhard nahm alle Kraft zusammen. Er spürte den Fluss, hörte das Gluckern, freute sich, damit zu spielen, darin einzutauchen - "Nein! Bekämpfe es!"
Der Junge verstand nicht, warum er es bekämpfen musste. Verstand nicht, warum er nicht, wie vorher, einfach bunte Funken erzeugen konnte, kleine Dinge schweben lassen konnte, oder sich einen Menschen in diesen glitzernden, leuchtenden Linien anzuschauen, die ihn so schön aussehen ließen. Aber er hörte auf dem Schamanen. Der wusste schließlich, was gut für das Dorf war.

Rikhard konzentrierte sich. Stück für Stück richtete er seine Mauer auf. Staute den Fluss, der mit aller Macht gegen Rikhards Willen ankämpfte. Das Wasser wurde sein Feind.

Dann brach der Damm. Rikhard wurde in die Luft geschleudert, Funken stoben umher, und als er auf dem Boden aufschlug, wurde ihm alle Luft aus den Lungen gepresst. Bevor ihn die Ohnmacht umfing, hörte er eine Stimme sagen: "Seht ihr? Er ist gefährlich, ich sage es euch..."

Kydora:
Mittlerweile saß Kydora in einer bequemen Sitzposition an den Baum gelehnt und hatte die Augen geschlossen.

Das Rauschen der Blätter… Sanfter Wind auf der Haut… Der feste und beständige Boden…

Es war egal, wer als nächstes ging. Sicher war jedoch, dass irgendjemand gehen würde. Denn das war nunmal der Lauf der Dinge. Alles musste irgendwann enden. Kydora konzentrierte sich noch einen Augenblick auf die Dinge um sie herum, nur um einen Wimpernschlag später wieder die Augen zu öffnen. Sie blinzelte ein paar mal und suchte die Gegend ab. Rikhard erblickte sie dort, wo er auch zuvor schon gewesen war. Jedoch schien irgendetwas anders zu sein. Neugierig legte sie den Kopf schief und musterte den Magier aufmerksam.

Rikhard Kraftweber:
Auf ein Knie gestützt, den Oberkörper nach vorne gebeugt, und eine Hand in den Boden gekrallt. Rikhard atmete schwer, als er die Erinnerung zurückdrängte, sich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrierte. Kydora musste nachgekommen sein, sie saß nicht weit weg von ihm an einem Baum. Ihr Kopf lag schief, und sie sah neugierig in seine Richtung. Nimm dich zusammen, Rikhard. Wie muss das denn aussehen! Der Assistenz der Akademieleitung, im Dreck. Also wirklich!

Natürlich gehorchte Rikhard seiner inneren Stimme, und etwas peinlich berührt dreinschauend klopfte er mit der freien Hand den Dreck aus der anderen. Dann richtete er sich auf, darauf bedacht, seine Kleidung nicht schmutziger zu machen, als sie schon war (was angesichts der Tatsache, dass es Reisekleidung war und sie schon recht lange reisten, im Grunde überflüssig war), und dann - atmete er aus, und statt sich aufzurichten und irgendetwas von oben herab zu sagen, um seine Schwäche zu verstecken, ging er schlicht zu Kydora hinüber, setzte sich neben sie und wischte die Tränen aus seinem Gesicht.

Kydora:
Schweigend beobachtete Kydora ihn dabei wie er sich zu ihr aufmachte und dann hinsetzte. Sie sah ihn noch einen Moment fragend an, schaute wieder zu der Stelle zurück, an der er wenige Momente zuvor noch gekniet hatte, und blickte ihn dann wieder von der Seite her an. Man konnte fast von einer gewissen Tradition sprechen, dass Rikhard immer dann Gefühle zeigte, wenn sie in der Nähe war. Mit einem neutralen Gesichtsausdruck reichte sie ihm ihren Trinkschlauch.

„Besser? Oder brauchst du noch irgendwas?“

Kydora hatte ihr Bein herangezogen und den Kopf nun auf ihrem Knie abgestützt, während sie Rikhard abwartend musterte.

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