17. Tag des 6. Mondes 258 n.J.
Jelenas Körper liegt in ihren Gemächern.
Jelenas Geist in nachtleerer Schwärze.
Ein gleißend weißes Licht zwingt sie für einen kurzen Moment die Augen zu schließen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Als sie die Augen öffnet umgibt sie ein Gefühl von Wärme und ein strahlend weißes Pferd steht an ihrer Seite. Sie folgt dem Tier langsam. Zeit spielt keine Rolle. Um sie herum ist nichts, es scheint als würde sie keinen Weg zurück legen und gleichzeitig die Unendlichkeit hinter sich lassen. Einer Eingebung folgend dreht sie den Kopf. Auf dem Boden aus schwarzem Glas spiegelt sich die Silhouette einer Eule. Kommt das gedämpfte Rauschen von den schlagenden Flügeln oder von den wallenden Vorhängen hinter ihr? Sie wendet sich um und das samtene Rot gleitet eine handbreit auseinander. Sie blickt neugierig in einen Raum, der keine Enden zu haben scheint. Drei Gestalten befinden sich hier, die sie nicht wahrnehmen. Ihr gegenüber steht ein Mann von königlicher Statur an einem Fenster, die roten Vorhänge zur Seite geschoben, und blickt hinaus, die Hände hinter seinem Rücken ineinandergelegt. Zwei Schritte neben ihm steht ein Krieger in einer Nische, dessen glänzende Brünne mit Gold verziert ist und dessen Haupt in Demut geneigt ist. Der Mann am Fenster dreht sich um. Für einen kurzen Augenblick scheint es, als würde er Jelena genau in die Augen und tief auf den Grund ihrer Seele blicken. Ein Räuspern im Raum lenkt seine Aufmerksamkeit auf eine Frau von übernatürlicher Schönheit, die ihn fragend anblickt. Die Lippen des Mannes bewegen sich, doch es dauert, bis sie sich an den seltsamen Klang der Worte gewöhnt.
"... möglich, doch ... führen?"
"... schätze ... Herz nicht, Gefühle... mächtige Waffe!"
Langsam versteht sie alles.
"Aber es ist eine Waffe, die er nicht zu führen vermag!" donnert er.
Ruhig, aber mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton erwiedert sie: "Du denkst zu schlecht von ihm! Kannst du ihm immer noch nicht verzeihen?"
Er schüttelt ernst den Kopf. "Das hat nichts damit zu tun! Ich kenne ihn besser als du! Es hat ihn schon einmal ins Unglück gestürzt! Und diesesmal, meine Liebe, wird er uns mit sich reißen!"
"Wenn selbst die Menschen aus ihren Fehlern lernen können, weshalb sollte es dann ein Gott nicht tun?"
"Schau dir die Menschen an: Wie viele Kriege entbrennen aus primitiven Gefühlen wie Eifersucht und Neid?"
"Vergleich nicht Eifersucht und Neid mit dem reinen Feuer der Leidenschaft!"
Er hebt beschwichtigend die Hände. "Du hast ja Recht, meine Liebe. Aber das macht ihn jetzt nicht berechenbarer. Vorher wussten wir wenigstens, was er vor hat!"
"Dann müssen wir es herausfinden!"
"Wie stellst du dir das vor?"
"Wir könnten IHN fragen."
"IHN?! Glaubst du wir können einem Wort Glauben schenken, das er mit seiner gespaltenen Zunge spricht?"
Ohne Vorwarnung ertönt ein dumpfes Donnergrollen und ein Windstoß weht Laub in dichten Wirbeln in den Raum, das sich einem Teppich gleich legt. In wilder Entschlossenheit betritt eine junge Frau die Szene.
"Eher würde ich mich ausweiden lassen als Szivár zu fragen! Welch absurder Gedanke!" herrscht sie die beiden an.
Der Mann hebt warnend eine Braue. "Vergiss nicht mit wem du sprichst, Tochter der Wälder!"
"Lass sie, sie ist noch jung!"
"Jung ja, aber nicht so töricht, um von IHM eine wahre Antwort zu erwarten! Ihr sitzt hier und diskutiert, während da draußen unsere Tempel brennen!"
"Und was schlägst du vor, kleine Nichte?"
Die junge Frau verweist auf die Blätter zu ihren Füßen, auf denen sie eben gewandelt ist. "Folgt der Fährte direkt und nicht auf Umwegen!"
Sich erhebend sagt die Schönheit: "Sprich klar, was du meinst!"
"Findet den Leitwolf und ihr werdet herausfinden, welche Beute er sich erhofft!"
Ein überraschtes Nicken am Fenster. "Du könntest Recht haben. Lasst es uns auf einen Versuch ankommen." Er wendet sich an den Krieger in der Nische. "Geh, mein Sohn, und suche die Wölfe. Lass dich zu ihrem Ziel führen."
Der Krieger, dessen Gesicht nicht zu erkennen ist, der Jelena aber dennoch irgendwie vertraut erscheint, verbeugt sich und verblasst.
Die drei Gestalten stehen mit einem Male nur wenige Schritte entfernt beeinander. Der königliche Mann hält einen edlen, edelsteinbesetzten Pokal in den Händen, die Schönheit einen kristallenen Kelch, die Ungestüme einen Becher aus Zinn.
Hinter ihr erklingt das helle, warnende Wiehern eines Pferdes. In Jelena steigt das unbestimmte Gefühl hoch, sie müsse sich beeilen. Vorsichtig macht sie einige Schritte zurück und dreht sich dann abrupt um, doch die Vorhänge versperren ihr wie eine undurchdringliche Mauer den Weg. Panik steigt in ihr auf, als sie versucht, die Vorhänge zur Seite schiebend, einen Weg freizukämpfen, und sich der schwere Stoff wie Fesseln um ihre Arme schlingt.
Auf Aufschrei des Entsetzens entreißt sich ihrer Kehle, als Jelena aus ihrem langen, bleiernen Schlaf hochfährt, die heruntergerissenen Vorhänge ihres Himmelbettes fest in ihre Hände gekrallt.
Ein lautes Klirren antwortet ihrem Schrei, als Rania vor Schreck ihr Glas fallen lässt. Die erschrockenen Gesichter von Damian, der Lavinia-Novizin und Mika blicken vom Fußende ihres Bettes auf Jelena herab.