Vanion bewunderte das rötliche Gold, in dem die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand. Der Kontrast zwischen den dunklen Tannen und dem spätsommerlichen klaren blauen Himmel war ein Geschenk der Götter.
Der junge Mann war von oben bis unten mit Morast beschmiert, dennoch fühlte er sich rein. Er ließ die Schaufel aus seiner Hand zu Boden fallen, dann stemmte die Arme in die Hüften und drehte sich um. Seine Blick wanderte über die Handvoll einfacher, aber doch mutiger und ehrlicher Männer, die er bezahlte, um in der Erde nach einem für sie vollkommen unnützen Leichnam zu suchen. Belustigt stellte er fest, dass Gernot, einer dieser Männer, so fest im sumpfigen Schlamm feststeckte, dass sein guter Stiefel von seinen Füßen geglitten und steckengeblieben war. Mit einer Schimpftirade zog er ihn hinaus, besah ihn kurz - es war eine Menge Schlamm in den Stiefel gelaufen -, zuckte kurz mit den Schultern und steckte seinen Fuß mit einem lauten Schmatzen gradewegs wieder hinein.
Vanion ging zu Luka hinüber, der ebenfalls mit einer Schaufel bewaffnet den Morast durchpflügte.
"Flößerssohn, wir suchen nun schon den ganzen Tag hier. Bist du sicher, dass Agathe hier begraben liegt?"
Missmutig sah der Mann ihn an. "Nu hör mal, ja! Hier ist der Platz, von dem man am besten sehen kann, wie Alamars Auge hinter dem Ottersee verschwindet. Es scheint, als ob die Sonne in den See eintaucht, schau nur gleich gut hin! Tannen sind auch hier, wie ich's gesagt hab. Das ganze ist Jahre her, die Natur holt sich vieles zurück, was ihr gehört." Er stieß seine Schaufel wieder tief in die weiche Erde. Es knirschte laut vernehmlich. Adrenalin durchfuhr Vanions Körper, das musste es sein! "Schnell!" Mit einem kurzen Ruf trommelte er die Männer zusammen. Alle gruben nun mit neuem Elan. Nach kurzer Zeit war ein Loch geschaffen und ein angeschimmelter Holzsarg kam zum Vorschein. "Vorsichtig nun! Ganz langsam!" Die Prozedur, den Sarg ohne Beschädigungen ans Licht zu bringen, war schwierig, doch es gelang. Vanion fiel vor dem Sarg auf die Knie. Vorsichtig zog er die verrosteten Nägel aus den Ecken. Ganz langsam, Millimeter für Millimeter, zog er nun die obere Platte von dem eigentlichen Sarg. Zum Vorschein kam ein halbverwester Leichnam. Vanion wich zurück, der Gestank war unerträglich. Doch er war sich sicher: Um den Hals des Leichnams sah er etwas Goldenes aufblitzen. Er hielt Gernot davon ab, danach zu greifen. "Lass deine Finger bei dir!" Vorsichtig hob Vanion den Totenschädel an, ein Auge schaute ihn leer an, im Anderen hingen noch verschrumpelte Hautfetzen. Er werkelte kurz, dann zeigte er Gernot und den anderen, was er gefunden hatte. "Seht! Die Sonne Alamars, um den Hals der Toten hängend."
Luka stupste Vanion an. "Sieh lieber mal über den See!" Als sei es ein Zeichen der Götter, war die Sonne genau zur Hälfte hinter dem See verschwunden. Doch es war immer noch taghell. Luka hatte recht: Es wirkte, als ob die Sonne im See versank. Bei diesem majestätischen Anblick wusste Vanion, was als Abschluss der Queste zu tun war.
"Kniet euch hin, alle!" Mit dem Rücken zum See sprach Vanion ein Gebet zu Ehren der Götter. Er pries Alamars Tugenden, bewunderte Lavinias Fürsorglichkeit. Er sprach von Aines verschlungenen Wegen, von Nadurias ewigem Kreislauf. Zuletzt sprach er über Tiors Zorn und das Feuer des Kriegsgottes. Doch kein Wort kam über Vanions Lippen, dass Szivar betraf. Der Täuscher blieb unerwähnt.
Mit Vanions letztem Wort verschwand die Sonne im See, und es war dunkel. Die Männer standen auf, umarmten sich stumm. Sie alle hatten gespürt, dass hier nicht einfach ein junger Kerl sie für eine seltsame Aufgabe bezahlt hatte - sondern dass die Götter geehrt worden waren.
Es wurde am Abend gefeiert, zwei mitgebrachte Bierfässer wurden geleert. Ein frisch erlegtes Reh sorgte gemeinsam mit ein wenig Pökelfleisch für volle Mägen.
Niemand störte das Festmahl unter den Baumwipfeln, nur eine neugierige Eule flog kurz über das Lager. Erst in den Morgenstunden fand die Feier ihr Ende, jeder ging oder torkelte zu seinem Schlafplatz. Niemand dachte mehr daran, eine Wache aufzustellen. Auch Vanion schlief zufrieden ein. Endlich, endlich hatte er, Vanion Bachlauf, Erfolg. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt Lavinia. Er hoffte, auch ihre Aufgabe bald erfüllen zu können.
Am nächsten Morgen, oder vielmehr Mittag, begann die Heimreise.