Vanion sah auf. Überraschend scharf sah er erst Anders, dann Wassilij an.
"Niemand weiß genau, was mit Wassilij geschehen ist, seit er.. seit Tailon Orikos. So hieß der Ort, die Tempelanlage, durch die die Wächter, angeführt von Nicolas, sich hindurchkämpften. Seltsame Dinge geschahen dort, Leute verschwanden, Stimmen waren allgegenwärtig.. sie wisperten in Ohren, in Gedanken, versprachen das höchste Glück und die schlimmsten Qualen. Dieses Portal, das dort geöffnet stand, stieß Alpträume aus. Ekelhafte Gestalten, menschlich anzusehen, tierisch anzusehen, Perversitäten der Natur. Jahre-, wenn nicht jahrezehntelang hatte so mancher Kerl und manches Weib versucht, herauszufinden, was der 'Schwarze Mond', nach dem die Wächter sich benannt hatten, überhaupt war. Ich für meinen Teil weiß es selbst jetzt nicht. Anders - Wassilij hat die unselige Angewohnheit, Erlebnisse sehr nüchtern zu berichten. Lass mich es erzählen, sonst verstehst du nichts.
Also.. es herrscht Bürgerkrieg in Engonien. Barad Konar, Auserwählter Tiors, hat den Kaiserthron an sich gerichtet, den Senat entmachtet und das Kaiserreich Engonien unter seiner Kontrolle. Das Land blutet, Bruder kämpft gegen Bruder, Schwester verrät Schwester, Vater kämpft gegen Sohn. Und inmitten dieses Chaos, das Tiors Herz erfreut, spinnt der Täuscher selbst seine Fäden. Er lässt den Sohn den Vater töten, bringt Freunde dazu, einernander aufs Blut zu hassen, zerreisst Familien. Lavinias Hand wird jedem gereicht, der bereit ist, sie anzunehmen, doch kann selbst die Göttin all die Wunden, die Tior und Szivar schlagen, kaum heilen. Inmitten dieses Chaos - ein Pilgerzug. Der Widerstand, gegen den Ursurpator, endlich geeint! Freunde, hohe Herren, Familien, Priester, Bauern, Händler, Soldaten, Söldner, Magier, Schreiber, Dirnen, Barden, alles, was du dir vorstellen kannst! Ein zusammengewürfelter Haufen, angeführt von Rittern und Klerikern, von hohen Herren eben. Und mittendrin Wassilij, als Leibwächter und Freund Jelenas. Jelena Jakovljeva, Inhaberin des größten Handelskontors, den Fanada zu bieten hat. Freundin von Flamen Magnus Alamariani Damian, im Bunde mit Chevalier Simon de Bourvis, Ritter der Königin Caldriens, und seiner Knappin, Lorainne de la Follye de Joux, Erzmagier Gorix Feuerklinge, das Rudel der Askarier, der Freundesverbund von Luthor, Temris und Wydh. Kadegar Sonnenwende, Lyra, Kassos - der einst als Albert bekannt war - und irgendwo auch Vanion, die unwichtigste Figur dieser Geschichte.
Und in diesen Wirren - oder war es kurz danach? - Tailon Orikos. Dieses Portal, dieses schreckliche Portal! Tagelang wurden Vorbereitungen getroffen, es zu schließen. Seltsame Wege wurden gegangen, magische Wege. Doch Wassilij, der vor Ort war, war auserwählt worden. Wie, warum? Das frag' wen anders.
Wofür er auserwählt war? Was weiß ich? Doch er war derjenige, auf dem Hoffnung ruhte. Er, der Stille, der nie im Vordergrund stand, war plötzlich im Mittelpunkt. Es galt, ihn zu schützen, ihn, der doch sonst andere schützte. Und was tut er? Er springt! Im entscheidenen Moment, als man sich durch all die Fallen, all die Kinder des Täuschers, durch Illusionen gekämpft hat, manchem Leid getrotz hat und schwere Verluste erlitten hat - da springt er mittenhinein. Mit diesem, diesem Ding! Er springt, rollt sich durch alles, was zwischen ihm und diesem Tor steht, huscht nach links, nach rechts, und mit einem Satz - ist er weg.
Und dann? Trauer. Wir hielten ihn für tot. Dann hofften wir, ihn wieder zu uns holen zu können. Und wir taten das. Es steht nicht mir zu, dir Einzelheiten zu erzählen, dass kann er selber tun, wenn er es denn möchte. Aber - " Vanion richtete seine Worte direkt an Wassilij. "- es ist nicht derselbe zurückgekehrt, der hineingesprungen ist. Er ist kälter als zuvor, er ist..." Der Knappe wählte seine Worte sehr sorgfältig und sah dem Waldläufer in die Augen. "Er ist unberechenbar. Man vertraut ihm nicht. Man erwartet, dass er im schlimmsten Moment das Messer zückt und es einem Freund in den Rücken treibt. Er ist nicht mehr der Wassilij, der als integrer Mann bekannt war, der effizient, aber nie.. eiskalt war. Er ist jemand, der ohne zu zögern tötet, jemand, der die Mittel dem Zweck unterordnet." Jemand, dem ich niemals sagen werde, dass Roqueforts Tochter in unserer Reichweite ist, bei Lavinia. "Ich vertraue darauf, dass all das, was ich grade gesagt habe, nicht wahr ist. Dass er der Alte ist, oder zumindest niemand, der Szivars Ketten trägt, niemand der einen Handel abschloss, um in unsere Welt zurückzukehren. Gorix und Balerian halten mich für dumm, sie halten mich für naiv, weil ich ihm vertraue! Na und?! Das ist doch Vertrauen! Es gibt keinen Beweis, aber ich vertraue Wassilij voll und ganz. Ich vertraue ihm mein Leben an." Nur meines. Nicht das Lorainnes oder von Roqueforts Tochter.
"Das heißt nicht, Anders, dass ich dir dasselbe anrate."