Vanion hatte lange geschwiegen nach Brans Gebet. Der Abend hatte wahrhaftig etwas Magisches an sich. Fast erschreckte er sich, als Anders ihn schließlich ansprach und auffordernd ansah. Zu Naduria betete Vanion nicht, doch um sie zu ehren, hatte er sich hingekniet. Nun bewegte er sich ein wenig, dann suchte er nach den passenden Worten. Es gab so Vieles zu sagen, so Vieles zu erbitten. Dass Bran und Anders in der Nähe waren, machte ihn zum Einen nervös, als würden sie seine Privatsphäre stören - doch auf der anderen Seite war er einfach froh, Freunde im Rücken zu haben. Irgendwer hört gerade zu. Ja, so war es wohl.
Tief holte der Knappe Luft, dann begann er leise zu sprechen.
"Heilige Lavinia Sanata, du hältst deine Hand über all jene, die Wunden tragen. Halte nun deine Hand über uns!
So viele Wunden wurden geschlagen, und du weinst gewiss über jede einzelne. Soviel Tod hat es gegeben, Blut und Schmerz! Halte deine Hand über uns alle, ich flehe dich an. Gib mir die Kraft, zu schützen und zu heilen, und wo meine Kraft endet, da stütze meinen Arm und den Arm all derer, die leiden. Es wird noch viele Verletzungen geben, bevor dieser Kampf zu Ende ist, doch ich bitte dich, heile eine jede einzelne. Schenke uns deine Gnade und deine Liebe!"
Eine kurze Pause entstand, nur unterbrochen von einem gemurmelten "Dank sei Lavinia". Dann fuhr Vanion leise fort:
"Heilige Lavinia Tutulina, in den Kämpfen, die da kommen, schütze die deinen vor aller Unbill. Lass deine Kinder keine Not leiden! Möge den Äxten kein Leid geschehen, und mögen sie alle in Haubach wieder trinken und feiern können, wenn ihre Arbeit getan ist. Schenke dem Mädchen aus El Kash Frieden, und schütze sie, wenn ich es nicht kann. Segne Lorainne mit deinem Kuss und deinen Tränen. Vor dir schwöre ich, alles zu geben, um die meinen zu schützen, bis zum Tode. Ich flehe dich um die Kraft an, diesen Schwur mit deinem Namen auf den Lippen erfüllen zu können."
Nun wurde Vanions Stimme dunkler, kräftiger.
"Heilige Lavinia Admoneta! Sieh herab auf Savaric de Roquefort! Sieh auf die Untaten, die mein Onkel begangen hat! Schaue in die Schwärze seines Herzens und erblicke seine Taten: ein Mörder ist er! Ein Quäler, ein Schinder, mehr Tier als Mensch, verschlagen und hinterlistig und skrupellos! Hilf ihm! Lasse ihn die Schwärze seines Tuns erkennen, lasse ihn bereuen." Onkel! Dreifach verfluchter Onkel! Bitterkeit und Hass stahl sich in seine Stimme.
"Kein Mensch kann ihm vergeben. Lasse ihn die Wut einer Mutter spüren, die Wut einer Mutter, deren Kinder leiden!"
Die Kraft, die aus Vanions Stimme sprach, wich langsam einer tiefen Traurigkeit. Leise, mit erstickter Stimme, sprach er:
"Lavinia Genetrix, unser aller Mutter. Du heilst, was zerbrochen war, und hältst zusammen, was zusammen gehört. Schütze meine Familie! Meine wirkliche Familie. In deine Hände lege ich das Wohl meiner Mutter, meiner Schwestern, meiner Tochter. In deine Hände lege ich Anders und Lorainne.
Lavinia Recepta. Jacques war ein guter Mann. Ich weiß, dass du so viele in den Schoß deiner grenzenlosen Liebe aufgenommen hast. Nimm nun auch Jacques in dein Reich auf. Setz ihn an einen Tisch mit Jules de la Follye, gleich neben die wilden, fröhlichen Sturmrufer! Lasse ihn speisen mit den Tapferen und Guten, die die letzten Wochen nicht überlebt haben. Er wird gewiss einen Becher mit Konrad trinken wollen, dem Ritter vom Hirschsprung! Vielleicht möchte er auch mit Marie tanzen, die beiden haben sich gemocht. Und.. " Laura. So viele! So viele waren tot! "..und nimm dereinst auch mich mit offenen Händen auf."