Wie sollte er Stella darlegen, weshalb er sich so entschieden hatte? Indem du einfach erzählst, wie du gefühlt hast, und immer noch fühlst. Wenn sie es nicht versteht, nun.. dann hast du wohl einen Freund weniger.
"Ich habe geschworen, dass Silas' Tod nicht umsonst war. Dass ich sein Opfer niemals vergessen werde, und versuchen werde, ein so guter Mann zu sein, wie ich nur kann, um ihn zu würdigen." Ein langes, bedrücktes Schweigen folgte diesen Worten. Vanion wusste nur zu gut, dass er Silas' Opfer nicht ehrte, indem er hier Felder beackerte und Vieh hin und her trieb. Aber welche Möglichkeiten hatte er nun noch? Doch Stella hatte noch einen weiteren Satz gesagt, und der war gewohntes Terrain. Er hatte sich so oft erklärt, gegenüber Ysander in Westmynd zuletzt. Die Worte kamen fast von selbst von seinen Lippen:
"Der Anspruch auf Roquefort, auf das Lehen, das momentan in Savarics Händen ist, kommt durch meine Geburt. Mein Stand kommt durch meine Geburt. Meine Rechte und meine Pflichten kommen durch meine Geburt. Alles, was einen caldrischen Ritter ausmacht, wird ihm in die Wiege gelegt. Als die Baronin von Goldbach mich kennenlernte, würdigte sie mich keines Blickes. Ich war ein tangaranischer Bauer, Schmutz an Lorainnes Rocksaum, aber als sie erfuhr, dass ich ein Roquefort war, da sprach sie mit mir. Ließ mir Kleider anfertigen, versorgte mich in ihrem Haus. Verstehst du? Jedes Recht und jedes Privileg meines Standes hab ich nur durch meine Geburt inne gehabt. Und wenn meine Geburt mir solche Rechte gibt, dann muss ich auch die Pflichten ernst nehmen. Dann sind die Verwandten des Mannes, der mich gezeugt hat, auch die meinen. Mit allen Rechten, die es mit sich bringt - und mit allen Pflichten. Savaric zu töten, im Grunde selbst nur gegen ihn zu arbeiten, wäre ein Verrat an meinem Blut. Es sei denn, er wäre verurteilt, gerichtet für das, was er getan hat. Doch am Ende ging es nicht mehr darum, Beweise für seine Schuld zu finden, oh nein. So richtig tat es das nie. Wie auch, wenn jemand über ein Jahr gefangen gehalten und gefoltert, seine Seele zersplittert und sein Körper zerschlagen wird? Genau das ist Lorainne geschehen durch Savarics Hand und durch seine Helfer."
Ein verbitterter Ausdruck trat auf Vanions Gesicht.
"Lorainne - sie war nicht irgendjemand für mich, nein. Sie war mein Vorbild, eine leuchtende Fackel der Ritterlichkeit! Doch je besser ich sie kennenlernte, je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte - seit ihrer Entführung kannte sie kein Maß mehr. Sie tötete Alain, Silas' Bruder - er wollte fortlaufen im Forêt d'Artroux, er wollte niemandem folgen, der einen Roquefort als Knappen genommen hatte. In Reichsfeld folterte sie Gefangene. Savarics Tochter, Leah, ist seit Jahren in ihrer Hand. Ich weiß nicht, ob sie immer noch so denkt, doch sie sprach davon, die Tochter gegen den Vater einzusetzen. Kannst du dir das vorstellen? Und auf dem Fest der Grenzen, oben in Salmar, als dieser Kerl sie vergiftet hatte - sie verzieh ihm, weil sie Informationen brauchte. Und doch war Lorainne wie eine Mutter und eine Tochter für mich. Ich bin ihr gefolgt, hab keine ihrer Entscheidungen in Frage gestellt. Aber grade in den letzten Monaten sagte ich nur allzu oft: 'Es steht mir nicht zu, etwas in Frage zu stellen.' Ich versteckte mich hinter meinem Dasein als Knappe. In Salmar hat sie versucht, in den Ritualkreis einzudringen. Wer weiß, was das Anders..."
Anders. Mit Macht drängte Vanion seine Sorgen um sie beiseite. Sie hatte ein Talent, sich in Gefahr zu bringen, doch genauso hatte sie ein Talent, da wieder heraus zu kommen!
"Ich geriet ins Zweifeln. Ob es richtig war, Savaric zu töten, ob es richtig war, jedes Mittel dafür einzusetzen. Die Ideale, die mich überhaupt auf diesen Weg gebracht hatten, die waren allesamt beschmutzt. Mit Ehre und Gerechtigkeit hatte es nichts mehr zu tun. Nur noch mit Rache. Und so hab ich mich entschieden, nicht mehr weiter zu gehen. Ich konnte nur Lorainne in den Rücken fallen und für Savaric kämpfen - oder aber meinen Onkel umbringen, mein eigen Fleisch und Blut, dem ich zu Treue verpflichtet bin. Lorainne nicht zu verraten, gebot mir die Ehre, und Savaric zu schonen, die Geburt. Also was tun? Allein eine Lösung ist geblieben: dass ich gehe."
In diesen lapidaren letzten Worten lag eine Bitterkeit, die Bände sprach.