Der Tag war grade erst angebrochen, aber er fühlte sich dennoch ausgelaugt. Lyras Worte waren harsch und direkt. Seit einer guten Stunde saß er nun in der Küche vor dem Kamin, und das Feuer war ausgebrannt. "Vorwurfsvoll" war ein freundliches Wort für diesen Brief. Fast musste er Lyra komplimentieren: sie hatte mit voller Wucht zugeschlagen, nur um ihm dann verbal hoch zu helfen. Doch die Hand, die sie ihm gereicht hatte, war schlüpfrig: erst schalt sie ihn für das, was er getan hatte, und dann wünschte sie ihm alles Gute für den Weg, den er nun beschritt?
Und das Ende dieses Briefes erst. Ein Angebot, wie es deutlicher nicht sein konnte. Es gab einen Ritter, der ihn in seine Dienste aufnehmen würde. Vanion hatte sich diesen Weg versagt. Wie konnte jemand, der einen Eid verriet, einen zweiten schwören und hoffen, diesen Eid zu halten? Man mochte es drehen und wenden, wie man wollte - Vanions Gründe, Lorainne zu verlassen, mochten gerechtfertigt sein, doch die Tat selbst wurde dadurch nicht besser. Doch dieser Ritter schien bereit, darüber hinweg zu sehen, so versprachen es zumindest die letzten Zeilen.
Ein saurer Bäcker backt immer saure Brötchen.
Durch das Fenster zum Innenhof drangen glockenhelle Kinderstimmen herein. Hier war sein Platz, oder etwa nicht? Vanion gab sich keinen Illusionen hin: er hatte hier einen Platz, ja - aber wenn er nicht hier wäre, würde es niemandem schlechter gehen. Seine Schwestern waren teils verheiratet (und so manche packte härter an als der Ehemann), und seine Mutter würde den Hof schon in Schuss halten. Seine Tochter wäre in liebevollen Händen, und er wäre ja nicht aus der Welt.
Ich fühle mich wie in einem Kreis gefangen! Dreh dich, dreh dich, dreh dich... Es war, als sei er wieder am Beginn seines Weges. Die Familie verlassen, um hehre Ziele zu verfolgen? Es gab doch Ehre in der Welt! Und er, Vanion Bachlauf, war ein Ehrenmann gewesen. Wenn er eines gelernt hatte, dann doch, dass man kein Ritter zu sein brauchte, um das Richtige in der Welt zu tun. Warum jetzt damit aufhören? Er konnte den Göttern und dem Eid, den er geleistet und gebrochen hatte, immer noch treu bleiben. Er konnte Silas' Opfer ehren. Alle Wege standen ihm offen, allein der Weg nach Caldrien nicht. Mochten einige seiner Freunde ihn nun verachten, andere würden zu ihm stehen!
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In den nächsten Wochen arbeitete Vanion härter als zuvor. Doch während die Qualität seiner Arbeit zu nahm, nahm die Quantität ab. Immer öfters ließ er andere die harte Arbeit tun, stellte sogar zwei Tagelöhner ein, um bei der Weizenernte zu helfen. Und dann, an einem späten Samstagabend, versammelte er seine Familie um sich. Die Menschen, die er liebte, und die in den letzten Jahren viel für ihn durchgemacht hatten. Ruhig erklärte er ihnen, dass es ihn fortzog. Dass der Hof in guten Händen war, niemand musste sich Sorgen um seine Existenz machen - und seine Familie umarmte ihn herzlich und wünschte ihm alles Gute. Er hatte sich selbst überflüssig gemacht in den letzten Monaten, fast schon unbewusst.
Am nächsten Morgen ritt er in die aufgehende Sonne hinein. An seinem Sattel hing seine Bardike - scharf geschliffen, mit einem gänzlich neuen Schaft aus schwerem, dunklen Eichenholz. Ein gelb-blaues Bändchen baumelte daran, direkt neben einem geflochtenen Knoten aus bunten, dicken Fäden.