Hier und dort: In Engonien und außerhalb des Kaiserreiches > Geschichten und Gespräche

Stand der Gnade

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Simon de Bourvis:
Scheinbar erfreut klatschte Blanchefleur in die Hände.
"Wie schön, wie schön, dann sind wir uns ja einig. Bring deine Tochter ins Kloster in wesser Gesellschaft auch immer Dir beliebt.

Nun, da wir diese unerfreuliche Sache endlich geklärt wissen, wollen wir uns angenehmeren Dingen zuwenden. Bringt meinen Narren!"

Respektvoll wurde Lorainne zu einem Sitz in der Runde geleitet, Vanion wurde an Ort und Stelle auf einen Schemel gesetzt und dann ein Becher verdünnten Weines in die Hand gedrückt.

Noch ehe Jemand Anstoss an seiner ungewöhnlichen Position in der Mitte nehmen konnte, trat ein bunt gewandeter kleiner Mann ins Rund.

"So hört, Ihr edlen Leute, wie der grosse Roderic, Bras de Fer, das heisst Arm aus Eisen, einst die grosse Südstrasse durch Blanchefleur ritt, auf der der Räuber Nachtigall sein Unwesen trieb und wo er weder Reiter noch Wanderer vorüberziehen ließ, indem er sie tötete, nicht mit Waffen, sondern mit seinem räuberischen Pfeifen. Und die Ritter der benachbarten Lehen wussten nicht weiter, wurden doch Ihre Waffenmänner, Steuereintreiber und Gefolge immer wieder Opfer des Räubers, der den Rittern ihr Lehen neidete und es gerne für sich selbst haben wollte..."

Der Narr untermalte seine Erählung mit Sprüngen und  Trillern auf einer Pfeife. Dabei bewegt er sich im Kries um Vanion herum und erzählte, die übliche Geschichte, wie Roderic den Räuber gefangen nahm und zu dessen Heim kam.

"...Der Räuber Nachtigall erblickte sie und sprach zu ihnen: »Meine lieben Schwiegersöhne, ladet keine Schande auf euch und erzürnet nicht einen so starken Ritter, damit er nicht auch euch töte. Bittet ihn lieber, daß er zu euch ins Haus komme und ein Glas Branntwein trinke.« Auf ihre Bitten kehrte Roderic, Bras de Fer,  im Palaste ein, ohne ihre Bosheit zu ahnen, denn die älteste Tochter hatte einen Ballen an Ketten über der Türe aufgezogen, um ihn zu erschlagen, wenn er durch das Tor ritte. Roderic aber erblickte sie über der Pforte, schlug sie mit seiner Lanze und tötete sie."

Die ganze Vorführung wirkte ein wenig hölzern und wenig akrobatisch, als arbeite der Narr lediglich einige Standardsprünge und Verrenkungen aus seinem Repertoire ab und stückele sie einfach zusammen.

Als habe er keine Lust oder Zeit gehabt eine angemessene Vorführung einzuüben.
Die Erzählung schlabberte den üblichen Verlauf entlang.

"...Da nahm Roderic, Bras de Fer, den König und die Königin  und befahl dem Räuber Nachtigall halblaut zu pfeifen; aber er pfiff ganz laut und betäubte alle Ritter, daß sie zu Boden stürzten. Darüber wurde Roderic, Bras de Fer, so aufgebracht, daß er sprach:
"Ein übler Gesell bist Du, Räuber Nachtigall. Viel Unglück hast Du gebracht und viele getötet, weil du Ihnen die Lehen neidest! Doch wohin hat es Dich geführt, Dich gegen die göttliche Ordnung der Welt zu stellen? Ein Lehen hast Du nicht erlangt, dein Kind ist erschlagen und zum Letzten auch Du!"
Und so erschlug Roderic den Räuber Nachtigall!"

Die letzten Verse hatte der Narr direkt zu vanion gesprochen, auf dem ebenfalls die meisten Augenpaare im Raum geruht hatten.

"Narr, du bist eine Enttäuschung!" liess sich der Baron in die Stille vernehmen.
"Zuviel unserer Kostbare Zeit haben wir mit dieser Kinderei verschwendet. Verschwinde und komm mir in der nächsten Zeit nicht unter die Augen!"

Auch seine Augen ruhten auf Vanion.

Dann löste sich die Anspannung des Momentes.

"Nun, wir wollen die Runde auflösen, viel Glück Vanion aus Roquefort, bis wir uns wiedersehen."

Blanchefleur stand auf, die "Audienz" war beendet.

Isabeau Lioncoeur:
Isabeau hatte einen Platz zur linken des Barons gewiesen bekommen und beobachtete das Schauspiel vor sich mit einem neutralen Gesichtsausdruck.
Als der Narr entlassen wurde, beugte sie sich leicht zu Blanchfleur und sprach leise, so dass nur er es hören konnte:
"Subtil, ma chère, subtil..." während ihre Augenbraue sich spöttisch nach oben zog.

Vanion:
Vanion aus Roquefort.

In diesen Worten lag - Macht. Ein tiefer, hallender Klang.

Irgendetwas in ihm bewegte sich.
Es war, als ob verschiedene Teile sich langsam, ächzend in Bewegung setzten, und ein neues Muster bildeten. Da war der Bauer. Da war der Tagedieb, der mit Marius durch die Welt gezogen war, getrunken und gefeiert und im Straßengraben übernachtet hatte. Die beiden verschwommen miteinander, und das Bild, dass sich daraus ergab, war sehr, sehr unschön.

Doch dann kam noch ein Teil von ihm dazu: der junge Mann, der stark und geschickt, aber recht einfach gestrickt war. Dessen Stolz und dessen loses Mundwerk ihn nur allzu oft in Schwierigkeiten gebracht hatte - aber dessen Geschick und dessen Glück ihn wohlbehalten durch die Wirren des Bürgerkrieges geführt hatte.

Der Junge, der in Lorainnes Dienste getreten war. Der in Schlagbaum, im Arden, in Andarra zum Mann geworden war. Der Moment, als am Ottersee die Sonne aufging, der Moment, in dem Agathes letzte Ruhestatt gefunden wurde.

Auch dieser Junge rückte an seinen Platz. Bauer, Taugenichts, Kriegsknecht - der Knappe Vanion war geboren. Und der schritt nun umher, rast- und ruhelos, auf der Suche nach seiner Rittermutter, die entführt worden war.

Auch der Knappe fügte sich ins Bild. Seine hehren Ideale und die ständigen Konflikte mit sich selbst, in denen er gestanden hatte, verflochten sich untrennbar miteinander.

Und der Eidbrecher. Und der Sippenmörder.

Vanion aus Roquefort.

Ein Mann von Stand. Mochten andere von höherer Geburt sein, ihn kümmerte es nicht. Sein Stand war anerkannt. Seine Geburt war anerkannt. Kein Caldrier, kein Adliger würde ihm dies jemals wieder nehmen können.

Die subtile Drohung Blanchefleurs durch die Erzählung des Narren nahm er hin. Deutlicher konnte der Mann nicht werden. Respektvoll verbeugte er sich vor Blanchefleur - und auch vor Goldbach. Dann wurden ihm seine Habseligkeiten, die man ihm abgenommen hatte, ausgehändigt.

Der Mann, der losstapfte, um vor die Tore Engonias zurückzukehren, war derselbe Mann, der vor fünf Jahren innerhalb dieser Stadt für ein freies Engonien gekämpft hatte - und doch war es ein ganz anderer.

Lorainne:
Ein eiskalter Schauer lief Lorainne den Rücken herunter, als sie dieser Geschichte lauschte. Sie war sicher, dass Blanchefleur diese unterschwellige Drohung wahrmachen  und die kleine Jeanne töten würde.
Ein unbedachten Schritt von Vanion... Doch er würde seine Hände nicht nach Roquefort ausstrecken. Er würde nicht noch einmal sein Wort brechen.
Vanion aus Roquefort. Anerkannte Bastard eines firngardischen Adligen. Und doch niemals so wie die Anderen.
Den Eidbruch würden sie niemals vergessen, das wog schwerer als seine tangarianischer Herkunft.
Sie würde über das kleine Mädchen wachen, ihr Schild sein, und wenn nötig, ihr Leben im Namen Lavinias mit dem Schwert verteidigen.

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