Kelos betrat, den Kopf gesenkt, die große Halle des altehrwürdigen Tempels. Die um ihn herum aufragenden Säulen aus weissem Marmor, die goldenen Verzierungen, die in kunstvoller Weise Szenen aus dem Leben der Heiligen Alamars, Kaiser Jeldriks und Herrman von Ahrnburgs zeigten, hatten nie ihre Wirkung auf ihn verloren, seit er ein junger, dummer Ritter gewesen war. Auf dem uralten Opferstein, dunkel von dem Blut vieler mächtiger Stiere und der jahrhundertealten Verehrung des Sonnengottes thronte das Abbild Alamars, ein mächtiger behauener Klotz mit einer Sonne an Stelle eines Gesichtes und einem apotropäischen Phallus, noch aus der Zeit vor dem Brüderkrieg. Das Opfer, was er gebracht hatte, lag betäubt bereit, ein wohlgenährter Ochse.
Kurz betete er, dann verließ er den Tempel wieder und ging zum Haupthaus. Ein Novize vor der Tür verneigte sich ehrerbietig und begleitete ihn in das spartanische Gemach von Flamen Magnus Henus. Im Bett lag der zusammengesunkene alte Priester, inzwischen gänzlich erblindet. Um ihn herum standen mehrere Novizen, die beiseite gingen, als Kelos näher kam und sich ans Bett kniete. "Mein Herr. Ihr wünschtet mich zu sprechen?" Henus tastete zittrig nach Kelos Gesicht und nahm es in seine Hand. Er holte rasselnd Luft und sprach dann mit der Klarheit langjähriger Übung, nur leicht getrübt durch sein Alter. "Man sagt mir, junger Kelos, dass du den Mörder zur Strecke gebracht hast. Und dass du dich deinen Taten gestellt hast. Man sagt mir auch, dass der Herzog dich unterstützt." Kurz unterbrach er sich, hustete und holte wieder rasselnd Luft. "Alamar ruft mich bald zu sich. Ich verlasse ein geteiltes Land, indem soviel Böses aktiv ist wie lange nicht mehr. Wir brauchen neue Stärke. Die Tempel des Alamar müssen wieder die Baken goldenen Lichtes werden, die sie einst waren. Ich weiß nicht, ob dein Weg der Richtige ist, er erscheint mir harsch. Aber vielleicht bin ich alt und schwach geworden." Henus winkte mit einem zittrigen Finger einem Novizen, der ihm ein goldenes Amulett bachte, welches er Kelos überstreifte. "Zweifel darf ich jedoch im Hause des Herrn nicht haben. Ich segne dich im Namen des Herrn Alamar, Herr der Sonne und des Lichts, König der Götter und Menschen, Schöpfer von Wahrheit und Recht. Mögest du tun, was dir dein Weg vorgibt, um die Tempel Alamars erneut zu dem zu machen, was sie einst waren." Entkräftet fiel Henus' Arm ins Bett zurück. Kelos richtete sich langsam auf. "Flamen Magnus Solis Alamariani Henus, ich danke euch für euren Segen und seid versichert, ich werde nicht rasten, bevor ich diese Aufgabe nicht erfüllt habe." Er verneigte sich und verließ den Raum.
Barebury - 17. Tag des 12. Monats, 266 n.J.
Laut erschallen alle Glocken und Hörner des Tempels, als sich früh am Morgen eine langsame Prozession in den Tempel begab. Sie trugen auf einer Bahre Henus, den letzten Priester Alamars, der zu Zeiten Halias geboren war, der die Öffnung Engoniens und die turbulentesten Zeiten der letzten 250 Jahre erlebt hat. Geführt wurde die Prozession von Inquisitor Kelos, der die große Schale mit Seewasser trug. Vor dem Tempel stoppte die Bahre und Kelos hub die Schale hoch über den Kopf. "Oh Herr Alamar! Lass ein deinen treuen Diener Henus! Errette ihn vor den dunklen Wassern des ewigen Meeres! Erhebe ihn in die Gefilde der Götter, auf dass er sich auf ewig deiner erfreuen kann!"
Langsam vergoß er die Schale über der Bahre, während diese durch das Tor hineingetragen wurde. Die versammelte Menge folgten still, einige leise weinend, um ihren letzten Abschied von Henus zu nehmen.
Die Trauerfeierlichkeiten dauerten den gesamten Tag an. Gesänge und Gebete erfüllten den Tempel und Boten werden zu allen Tempeln hinausgeschickt.
Barebury - 21. Tag des 12. Monats, 266 n.J.
Aufgeregtes Summen ging durch den alten Alamartempel. Bis zum letzten Platz war er gefüllt, denn die Anwesenden erwarten, dass ein neuer Tempelvorsteher verkündet würde. In den ersten Reihen sassen, stolz in ihren Wappenröcken, viele Anhänger der Inquisition. Als die Mittagsstunde näher rückte, trat Kelos, flankiert von vier Inquisitoren, durch einen Nebeneingang in den Tempel.
Kelos ging im Tempel zu dem Platz, der von altersher nur dem Großinquisitor zustand, aber niemand wagte es, ihn dort wegzuschicken. Langsam wurde die Menge so still, dass selbst das Atmen wie Donner schien. Kelos ließ seinen Blick über die versammelte Menge schweifen. "Ihr guten, gläubigen Menschen! Treu steht ihr zum Herrn Alamar und seid ein Bollwerk gegen die Finsternis der Welt. Und diese Finsternis ist allgegenwärtig. Ich war vor wenigen Wochen in einem Spital der Herrin Lavinia, in der Nähe von Engonia. Eigentlich wollte ich dort nur einen der Unseren zur Strecke bringen, der der Dunkelheit anheimgefallen war. Doch was ich dort sah, war Leid. Viele Menschen, die durch Kriege und finstere Werke auf ewig gezeichnet wurden. Und dazwischen wanderten die Helden des Bürgerkrieges, die in den langen Jahren der Herrschaft Konars Widerstand leisteten und dabei viele, auch dunkle Werkzeuge verwendeten. Und hielten sie an und spendeten ein tröstendes Wort? Nein. Sie trachteten sogar mir nach meinem Leben, auf dem geheiligten Boden Lavinias! Und wäre nicht der Geweihte Lavinias gewesen, wer weiß was sie getan hätten."
Kelos atmete tief durch und wartete, bis die beginnende Unruhe wieder nachließ. "Aber wir wollen diese Leute nicht verurteilen." Er hob die Hand, als zorniges Gemurmel aus den ersten Reihen laut wurde. "Nein, das wollen wir nicht. Denn wo waren wir? Wo waren die Tempel des heiligen Alamar, als diese Menschen gegen den Ursurpator kämpften? Wo war jeder von euch, wo waren wir Inquisitoren?" Stechend schaute er sich um. "Wir haben die Menschen Engoniens alleine gelassen! Können wir ihnen einen Vorwurf machen, wenn sie sich zu Bluttaten und noch finsteren Dingen wenden, wenn wir ihnen nicht ein Licht sind?"
Die Inquisitoren hoben Flaggen hoch, die von Fanada, Uld und Brega. "Dort, in Tangara, dort brach Konars Macht. Wo war Alamars goldenes Licht? Dort," er zeigte auf Fanada, "wird es der Tag des Wolfes genannt und die Geschichten drehen sich um Tior. In Uld," wieder ging der Finger, "verschwanden in einer dunklen und blutigen Nacht alle Offiziere des Lupus Umbra, man flüstert, sie seien gemeuchelt. Wessen Werk war das? Das Werk Alamars? Ganz bestimmt nicht! Und dann Brega. Als Brega erobert wurde, standen dort Nichtengonier, die unsere Last schulterten. Natürlich griffen sie zu Magie, um Breschen zu schlagen! Natürlich griffen sie zu Feuer, um die Stadt zu erobern! Und wo waren die Alamargetreuen, als es um das Breganer Feuer ging, dass die Reichsgarde beschlagnahmen wollte?" Wütend schaute Kelos die mucksmäuschenstille Menge an. "Und als Flamen Damian in diesen Tempel kam, um den Pilgerzug zu verkünden, wer folgte ihm? Drei Dutzend? Auf den göttlichen Pilgerzug, als es um die Befreiung ebenjenes Landstrichs ging, in dem wir leben? Und wo waren wir, als Pilgerzug und Reichsgarde in Wut gegeneinander gerieten und sich in Ahrnburg gegenseitig erschlugen?"
Kelos ließ die Hände langsam sinken. Er sagte lange nichts. Dann hob er wieder den Kopf. "Wir haben gefehlt. Wir haben zugelassen, dass Politik und falsche Toleranz das Licht des Herrn Alamar verdüstern. Dass wir unseren Blick von der Not unserer Mitengonier abwenden. Genug, sage ich! Genug! Der Herzog selbst hat das Dunkle gesehen, dass heraufzieht und ist bereit, dem Lichte und Schwerte Alamars zu dienen! Also rufe ich euch auf, tut dasselbe! Nicht länger sollen wir zulassen, dass die Menschen sich der falschen Mittel bedienen und die Krankheit der Magie und das Verderbnis der Nützlichkeit in die Welt bringen! Lasst uns in Barebury erneut das Banner Alamars emporheben und mit neuer Kraft hinaus in die Lande Engoniens strömen! Lasst uns erneut die Kraft finden, das Schwert im Namen des Herrn zu heben und den Schatten zu vertreiben! Unter dem Banner der heiligen Inquisition von Barebury soll erneut das Licht Alamars in den letzten Winkel Engoniens strömen!"
Bei den letzten Worten Kelos wurden immer mehr Rufe laut und als der letzte Satz verklang, sprangen die Menschen auf und riefen und schrien durcheinander. Langsam schälte sich ein Name heraus, der gerufen wurde: "Kelos! Kelos! Kelos!"
Kelos hob die Hände und wollte, als die Menge sich wieder beruhigte, hinsetzen, als eine junge Akolythin im Gewand der Inquisition und mit feuerroten Haaren aufsprang, ihre Waffe zog und laut rief: "Ich schwöre mein Schwert euch, Großinquisitor Kelos!" Für einen Sekundenbruchteil herrschte absolute Stille. Und dann brach erneut eine Kakaophonie von Stimmen aus, Waffen wurden gezogen und in die Höhe gereckt, bis schließlich ein Ruf die Menge vereinte: "Großinquisitor! Großinquisitor! Großinquisitor!"
Kelos hob wieder Hände und diesmal begann er ohne Unterbrechung zu sprechen, als die Menge still geworden war. "Freunde. Ihr legt mir einen schweren Mantel auf die Schultern. Aber euch zuliebe und in Alamars Namen werde ich diesen Mantel tragen. Ich werde die Inquisition führen und von Barebury aus wieder das Licht nach Engonien bringen." Er macht eine kurze Pause. "Und ich verkünde hiermit, dass als erste Amtshandlung in den Ländereien Bareburys jede Person festzusetzen ist, die der Magie mächtig ist. Ihnen soll ihre Krankheit ausgetrieben werden, auf dass sie geheilt entlassen werden. Dies tue ich kraft der Bulle, die der Herzog der Inquisition übergeben hat."
Er wartet wieder einmal, bis die Zwischenrufe verstummen. "Und dann, meine tapferen Streiter, beginnt unser schweres Werk. Der Herzog verlangt Beweise für das Wirken böser Magie in seinem Herzogtum. So er diese Beweise bekommt, ist er bereit, diesen meinen Richtspruch in ganz Hanekamp zu verkünden. Wir wissen, dass dem so ist, dass die Magie den Menschen finster und verdorben macht. Und in ganz Hanekamp werdet ihr Beweise finden, wenn ihr nur genau genug hinschaut. Strömet hinaus, im Lichte Alamars, unseres Herrn und seied gesegnet in eurem Tun!"
Barebury - 21. Tag des 12. Monats, 266 n.J., am späten Abend
Ein kleines Kaminfeuer erwärmte den kleinen Raum. Der Lichtschein umspielte die vier Leute, die in Sesseln sassen, Kelos, die rothaarige Sirasa und zwei seiner getreuesten Inquisitoren. Kelos trank einen tiefen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in seinem Glas. "Der Herzog hat darauf hingewiesen, dass Voranenburg zumindestens gefährlich sein könnte. Daher haltet unsere Leute noch im Süden Hanekamps." Sirasa nickte leicht und öffnete eines ihrer vielen Notizbücher. "Meine Herren, der Graf hält große Stücke auf seinen jüngsten Sohn. Wenn ein besonders eifriger Anhänger mit diesem aneinandergeraten würde, dann könnte das zu Ärger führen. Er befindet sich momentan auf einer Reise, aber wenn er wiederkommt..." Beide Inquisitoren nickten. Kelos stellt das Glas hin und beugt sich vor. "Aber ich bin nicht unglücklich darüber, wenn ich ein klärendes Gespräch mit seinen Magierfreunden führen könnte. Ihr beide sollt also dort umherreisen, vielleicht trefft ihr jemanden. Ladet ihn dann ein." Wieder nickten die beiden Männer und verabschiedeten sich. Kelos und Sirasa blieben zurück und schauten gedankenverloren in das Feuer, in dem gerade ein Holzscheit zerbrach und einen Funkenregen ausstieß, welcher im Kamin entschwand.