Autor Thema: Auf Reisen.  (Gelesen 7109 mal)

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Re: Auf Reisen.
« Antwort #15 am: 25. Aug 15, 17:25 »
Ein beherztes Klopfen an das schwere Tor sorgte dafür, dass Vanion Einlass gewährt wurde. Nun stand er ein wenig hilflos im Innenhof herum - er wollte seine Hilfe anbieten, wusste aber nicht, wohin. Da sprach ihn eine Frau an. Um die dreißig mochte sie sein, doch die Haare waren schlohweiß. Ein Lederband hielt den Schopf in ihrem Nacken, und während viele Lachfältchen an ihren Augen zu sehen waren, sah man genauso einige Sorgenfältchen um die Mundwinkel herum. Sie war in eine beige Tunika gehüllt, und an linken Seite trug sie ein schlankes Rapier in einer dezent verzierten Lederscheide, auf der Metallbeschläge glitzerten.

Sie stellte sich als Danica vor, und artig sagte auch Vanion seinen Namen. Wohin er denn wolle, wollte sie wissen, und als Vanion sagte, dass er seine Hilfe anbieten wolle in Anbetracht der Wegelagerer im Wald, musterte die Frau ihn verwundert und auch ein wenig vorsichtig:

"Gewiss ist es gut gemeint, Meister Bachlauf, aber seid versichert, dass die Stadtwache das alles unter Kontrolle hat. Grade jetzt, in den frühen Abendstunden, befindet sich ein Trupp auf dem Weg in den Wald, der sich um diese Gesetzlosen kümmern wird. Und Ihr habt bereits eine Verletzung davongetragen, ich sehe doch Eure Schulter."

Schon wollte sie sich abwenden, da besah sie sich den Mann vor ihr noch einmal genauer.
Er stand dort mit einem gewissen Selbstbewusstsein. Am Sattel des Pferdes hinter ihm hing eine Bardike, deren Klinge in der Abendsonne glänzte. Und mochte der Gambeson, den der Mann trug, auch bereits ein wenig in Mitleidenschaft gezogen worden sein, so waren die sichtbaren Flicken doch sorgfältig angebracht worden. Auch Verletzungen schien er gewohnt zu sein; als er sich vom Pferd geschwungen hatte, hatte Danica nichts gesehen, was auf Schmerzen hingedeutet hätte, erst nun, da der Krieger vor ihr stand, war ihr die Wunde aufgefallen.
Alleine von Berufs wegen her wurde sie nun misstrauisch. Sie war nicht nur Teil der Stadtwache Norodars, sondern hatte sogar einen nicht ganz unwichtigen Posten inne.

Kurzerhand winkte sie zwei weitere Wachen heran. "Bringt Meister Bachlauf in die Mannschaftsquartiere, in eines der freien Rekrutenzimmer." Als Vanion zu sprechen anhob, winkte Danica nur ab. "Glaubt mir, Meister Bachlauf, jemand sollte nochmal nach Eurer Schulter sehen. Nachher entzündet sich die Wunde. Ihr kommt ohnehin nicht von hier, nicht wahr?" Vanion blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.

Als die beiden Wachen den ehemaligen Knappen zu seinem nicht ganz freiwilligen Nachtquartier geleiteten, nickte Danica selbstzufrieden. Zum Einen war sie nun sicher, dass die Operation heute Abend im Wald nicht fehlschagen würde, und zum anderen hatte sie für den morgigen Tag einen gewiss interessanten Gesprächspartner gewonnen. Ich glaube zwar nicht ernsthaft, dass er zu den Wegelagerern gehört, aber man weiß nie. Sicher ist sicher.
« Letzte Änderung: 25. Aug 15, 17:27 von Engonien NSC »
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Offline Vanion

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Re: Auf Reisen.
« Antwort #16 am: 26. Aug 15, 15:32 »
War Vanion anfangs irritiert gewesen, wurde ihm nun recht schnell klar, was geschah. Die beiden Wachen, die ihn begleiteten, waren gesprächig - ein alter, bärtiger Veteran und ein Frischling. Vor allem der Veteran schien gern mal eine Geschichte auf zwei zu erzählen. Nachdem die beiden ihn zu den Mannschaftsquartieren geleitet hatten, fragte Vanion, was denn hier überhaupt vor sich ginge, und wurde aufgeklärt: heute Abend unternahm die Stadtwache einen Schlag gegen die Wegelagerer. Der Krieger war hier aufgetaucht, verletzt und nicht gerade reinlich (eine Reise auf dem Pferderücken sorgte nunmal dafür, dass man auf gewisse Annehmlichkeiten verzichten musste).
Das hatte Danica, die einen Offiziersposten inne hatte, dazu gebracht, ihn über Nacht hier zu behalten. Er mochte nicht offiziell festgesetzt sein, aber es war klar, dass er zumindest bis zum morgigen Tag hierzubleiben hatte.

Warum auch nicht, dachte er. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass diese Operation die erste war, für die Danica selbst verantwortlich war. Folgerichtig ging sie kein Risiko ein, das sie oder ihre Männer gefährden würde. Vanion konnte es der Frau nicht verübeln, als er an sich herunter sah. Er hätte durchaus zu den Wegelagerern gehören können. Das blaugelbe Band, das von dem Schaft seiner Bardike baumelte, mochte für ihn und einige andere aufschlussreich sein, doch nicht für die Männer und Frauen hier in Norodar. Sonst trug Vanion nichts an sich, was auf irgendeine Zugehörigkeit hätte schließen lassen.

Der Mannschaftsarzt ließ nicht lange auf sich warten. Er sah sich Vanions Schulter genauer an, bestätigte nochmals, dass die Wunde nicht gefährlich war, und verordnete kurzum für den Abend Bettruhe und Schonung. Das Abendessen, deftigen Eintopf, nahm der Krieger gemeinsam mit anderen Rekruten ein. Er stand unter Beobachtung, aber er hatte den Eindruck, dass die meisten eher neugierig als misstrauisch waren.
« Letzte Änderung: 26. Aug 15, 15:42 von Engonien NSC »
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Offline Engonien NSC

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Re: Auf Reisen.
« Antwort #17 am: 26. Aug 15, 15:41 »
Am nächsten Morgen wurde Vanion vom unsanften Klang eines Horns geweckt. Man blies zum Morgenappell. Grade hatte er sich angezogen, da wurde nach einem kurzen Klopfen die Holztür seines Quartiers geöffnet. Danica streckte den Kopf herein und lächelte ihn an.

"Ich hoffe, Ihr habt gut geruht, Meister Bachlauf?" Als Vanion nickte, fuhr sie fort: "Nun, ich denke, Ihr wisst so gut wie ich, weshalb Ihr die Nacht hier verbracht habt. Ich habe bereits gehört, dass meine Männer gerne reden, und warum sollten sie's auch nicht tun? Es wird Euch gewiss freuen, zu hören, dass die nächtliche Aktion ein voller Erfolg war. Im Wald gab es eine Höhle, und.. nunja, die hatte einen Eingang, aber keinen Ausgang."
 Härte trat in ihre Augen, und um Danicas Mundwinkel herum entstanden Falten, die auf Härte und Unerbittlichkeit schließen ließen.
"Wenn man alle Ratten an einem Ort hat, so reicht wenig Holz und ein kleiner Funken, um sie auszuräuchern."
Gespannt lauerte sie auf Vanions Reaktion. Wenn die Männer im Wald seine Freunde gewesen waren und er dazugehören würde, würde er sich nun wohl verraten. Doch der Mann vor ihr begann zu lächeln:
"Gute Arbeit, Danica. Ich hoffe nur, Ihr habt keine Verluste zu beklagen."
Die Frau schüttelte den Kopf.
"Nein, nicht einen Mann. Zwei oder drei haben ein paar Verletzungen davongetragen, doch nichts Schlimmes. Stellt Euch vor, einer ist gestolpert und mit dem Kopf gegen einen Baum geprallt. Im Kampf, versteht sich. Wie auch immer, da Ihr nun schon die Nacht in meinem Haus verbracht hat, möchte ich Euch auch zum Frühstück einladen."

Nach weiteren unverbindlichen Worten bekam Vanion Gelegenheit, sich zu waschen. Sogar frische Kleider wurden ihm gestellt. Zwar war das Wams und das enge Beinkleid in den Farben Norodars, Grau und Schwarz, gehalten, aber das störte ihn nicht weiter. Man begab sich in ein Arbeitszimmer, das offensichtlich von Danica genutzt wurde. Auf einem schweren Holztisch lagen einige Dokumente und ein aufgeschlagenes, in Leder eingebundenes Buch. Vanion wurde gutes, deftiges Brot gereicht, mit fetter Butter, Käse und gutem Schinken. Danica aß nichts; sie hatte bereits in der Frühe gegessen.

Während Vanion speiste, schrieb Danica einige Sachen in das Buch hinein. Als Vanion mit dem Essen fertig war, schlug auch Danica das Buch zu, stand auf und legte es in eine kleine Kommode, die neben der Tür stand. Dann füllte sie zwei Becher mit verdünntem Wein, reichte einen Vanion und fragte: "Also, Meister Bachlauf, wo kommt Ihr eigentlich her? Von hier jedenfalls nicht."
« Letzte Änderung: 26. Aug 15, 15:46 von Engonien NSC »
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #18 am: 01. Sep 15, 20:02 »
"Ich komme hierher, aus Norodar. Oder, zumindest bin ich hier geboren."

Vanion lächelte. Das hübsche Gesicht vor ihm war ihm von Anfang an bekannt vorgekommen, und auch, wenn Danica älter als er war, wusste er nun endlich, woher er sie kannte. Prüfend sah er sie an, und da ging ihm auf, dass auf ihrem Gesicht ein bestimmter Ausdruck der Erwartung lauerte. Sie wusste es ebenfalls, ganz so wie er. Warum hatte sie nichts gesagt?

"Aber verratet Ihr mir doch nun - wie schafft es ein Mädchen, das Zeit damit verbringt, andererleuts Kinder zu hüten, einen Offiziersposten der Wache Norodars einzunehmen?"

Danicas Gesichtszüge entgleisten für einen Moment, dann hatte sie sich wieder im Griff. Offensichtlich hatte sie nicht mit Vanions Worten gerechnet. Doch schlagfertig, wie sie war, zögerte sie nicht:

"Durch Fleiß und Können, Kleiner!" Sie lachte nun herzlich.
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #19 am: 03. Sep 15, 10:33 »
Tatsächlich war Danica hoch erfreut. Sie hatte von Anfang an vermutet, Vanion zu kennen - der Vorname war hier in der Gegend nicht grade häufig, doch den Nachnamen hatte es allzu oft gegeben. Da hatte es mal einen kleinen Jungen von zwei, vielleicht drei Jahren gegeben, auf den sie aufgepasst hatte, wenn seine Eltern mal keine Zeit hatten. Sie mochte nur fünf, vielleicht sechs Jahre älter sein als er, aber sie war schon immer etwas weiter gewesen als andere Kinder in ihrem Alter.

"Ich kann es nicht glauben. Wie geht's deiner Mutter? Seit sie diesen Caldrier geheiratet hat und nach Fanada davon gezogen ist, hab ich sie nicht mehr gesehen. Es ist bestimmt fünfzehn, zwanzig Jahre her! Ich weiß noch, wie sie mir Küchlein gebacken hat, weil ich dich gehütet habe!" Sie lachte laut. "Der kleine Vanion Bachlauf ist wieder hier in Norodar. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich noch an mich erinnerst, und mich vor allem wieder erkennst!"
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #20 am: 03. Sep 15, 13:10 »
"Meiner Mutter geht es großartig. Sie scheucht meine Schwestern fleißig hin und her, und mittlerweile auch deren Ehemänner."

Danica war vor vielen Jahren ein Mädel aus der Nachbarschaft gewesen, das Vanions Mutter geholfen hatte, die Kinder zu hüten. So hatte sie Vanion kennengelernt, und bei einem der Besuche, die Vanions Familie in Norodar gemacht hatte, nachdem sie längst fortgezogen waren, hatten die beiden sich immer wieder mal wiedergetroffen.
Irgendwo hier, das wusste der ehemalige Knappe, gab es noch mehr Verwandte von ihm. Seine Mutter hatte hier irgendwo eine Tante gehabt, die zwar mittlerweile verstorben war, aber die selbst vier oder fünf Kinder bekommen hatte. Vielleicht lebte der Onkel sogar noch.

Die Zeit verging nun wie im Fluge. Danica und Vanion tauschten sich aus, über Dinge, die in Vanions Leben, und Dinge, die in Danicas Leben geschehen waren. Danica war schon immer ein Wildfang gewesen, eine starke Frau, die sich nie etwas hatte vorschreiben lassen. Mit etwas Wehmut musste Vanion plötzlich an Lorainne denken, vor allem, als Danica erzählte, wie sie gegen den Widerstand ihres Vaters der Wache von Norodar beigetreten war. Dort hatte sie erst bei Übungskämpfen einige Männer vorführen müssen, bis man sie ohne blöde Sprüche akzeptiert hatte. Durch gute Arbeit stieg sie rasch auf, bis auf den Posten, auf dem sie nun war.

Freimütig erzählte Danica mehr und mehr von sich selbst, während Vanion entschlossen Fragen nach den letzten zwei, drei Jahren in seinem Leben auswich. Doch irgendwann sagte Danica: "Wann immer ich dich nach irgendetwas frage, was nicht gerade 10 Jahre her ist, weichst du mir aus. Du hast mir erzählt, dass du im Bürgerkrieg gekämpft hast, auf Seite der Widerständler, doch die Zeit danach scheinst du aus deinem Gedächtnis verbannen zu wollen. Warum? Was ist geschehen?"

Unruhig rutschte Vanion auf seinem Stuhl ein wenig hin und her. Diese ganze, lange Geschichte. Der Fall Engonias, die Queste im Namen Alamars. Die Aufnahme in den Knappenstand und der Eid, den er schwor, den er durch Taten und Worte bekräftigte. Lorainnes Entführung. Die Suche, die nicht enden wollende, ewige Suche, bis im letzten Moment aus purer Hilflosigkeit Hoffnung erwuchs! Alles war verloren, bis der Grüne Ritter, Jules de la Follye, erschien und diesen Sturmangriff den Berg hinunter ritt! Und dann die Heilung Lorainnes. Die Lüftung des Geheimnisses um seine Herkunft. Das Schützenturnier Roqueforts, wo sie alle fast gestorben waren. Westmynd, wo er bis zuletzt gestanden hatte, nur um dann vor Lyra zusammenzubrechen. Silas.

Das alles stürmte auf ihn ein. Jeder Moment, jeder kleinste Moment dieses Lebens, das er geführt hatte, bedrängte ihn, bekämpfte ihn, umschmeichelte ihn. Erinnerungen bohrten sich ihren Weg in seinen Schädel. Das Tagebuch! Er sah sich selbst, wie im Zeitraffer, die Seiten durchblättern, die so vieles über Lorainnes Leben verrieten. Sein Lächeln, als er die Zeilen über Luthor Kaen laß. Die falsche Spur, die sie mit Gorix' Hilfe verfolgt hatten, in den Sümpfen Andarras. Maugrims wölfisches Grinsen, als sie über Roqueforts Strafe sprachen. Und Silas, immer wieder Silas!

"Ist.. ist alles in Ordnung, Vanion?"

Die helle, kräftige Stimme riss ihn aus seinen Tagträumen heraus. Lange war er nicht mehr jemandem so dankbar gewesen für eine solch einfache Frage. Er wischte sich den Schweiß von seiner Stirn - ich schwitze?! Es ist kühl hier drin! Seine Hände zitterten, und entschlossen griff er nach der Karaffe mit Wein, die auf dem Tisch stand. Diesmal hielt er sich nicht damit auf, den Wein zu verdünnen. Rasch füllte er den Kelch, dann setzte er ihn an und - setzte ihn entschlossen wieder ab.
Maßlosigkeit, Verdrängen und Verstecken ist nichts, was einem Ritter würdig ist! Doch er war kein Ritter - und würde nie einer sein. Dennoch, der Kelch blieb unangetastet stehen. Die Oberfläche der tiefroten Flüssigkeit bebte ein wenig, und ein einzelner Tropfen rann die silbrige Außenseite herab und benetzte die weiße Tischdecke. Wie Blut sah es aus.

Den Blick auf den Weinfleck gerichtet, schüttelte Vanion den Kopf. "Nein, Danica. Es ist nichts in Ordnung." Er seufzte tief, dann holte er Luft. "Ich.. ich bin in eine Situation gelangt, aus der es keinen guten Ausweg mehr gab. Also hab ich das einzige gemacht, was mir noch als richtig erschien: ich bin gegangen."
« Letzte Änderung: 03. Sep 15, 13:22 von Engonien NSC »
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #21 am: 03. Sep 15, 13:18 »
Diese Äußerung erntete einen verwirrten Blick. Danica nippte nun selbst an ihrem Getränk, dann sprach sie:
 
"Nun, was ist schlimm daran, zu gehen? So wie du aussiehst, hast du dich als Söldner irgendwo verdingt. Hast du einen Vertrag gekündigt? Schuldest du jemandem Geld?" Sie lächelte aufmunternd. "Wenn es nur das ist, so kann ich dir helfen! Dafür würdest du der Wache natürlich ein, zwei Gefallen schulden."
Doch irgendwie ahnte Danica, dass es so einfach nicht war. Vanion war schon immer ein zwar lustiger, aber manchmal auch schwermütiger Bursche gewesen. Dem Kerl hatte das Herz auf der Zunge gelegen; wenn ihn etwas bedrückte, so sprach er es aus und machte oft sogar Scherze darüber. Traurig bleiben konnte der nicht. Dass er nun schwieg, konnte nur bedeuten, dass ihm zu schaffen machte, was immer er getan hatte.

Ihre Gedanken eilten von Möglichkeit zu Möglichkeit. Was mit Vanion geschehen war, interessierte sie herzlich wenig. Sie hatte den jungen Bachlauf immer gemocht, auch seinen Vater, Barack, hatte sie gern gehabt. Nun war der Sohn wieder hier. Was hatte ihn hierhergetrieben? Gewiss suchte er einen Platz, wo er nach dem Krieg ein wenig Ruhe hatte. Vielleicht würde er hier bleiben wollen, Danica konnte ihm gewiss einen Posten in der Stadtwache besorgen. Sie erkannte (ganz richtig), dass Vanion im Leben nichts gelernt hatte außer ein paar Pflanzen anzubauen, sich um Vieh zu kümmern, und Waffen zu führen. So war das nunmal mit Burschen, die früh in den Krieg gingen und überlebten. Soweit Danica wusste, hatten Vanions Eltern ein Gehöft vor Fanada gepachtet. Wenn Vanion dort nicht zufrieden war, würde er es hier gewiss werden. Hier gab es immer genug zu tun.

Aber dann warf sie einen tiefen Blick in die braunen Augen des Mannes, der vor ihr saß. Darin lag ein Ausdruck, der von Entschlossenheit und Stärke zeugte. Ein Ausdruck, den ein Mann hatte, wenn er unbedingt etwas tun wollte. Eine gewisse urtümliche Wut, doch worüber? Über sich selbst, über das, was Vanion getan hatte? Über das, was ihn dazu gezwungen hatte, das zu tun? Danica wusste es nicht. Hilflos zuckte sie mit den Schultern.

"Ich seh schon, die Wache ist nichts für dich. Ich hab gedacht, du kommst hierher, weil das, was dich fortgetrieben hat, vorbei ist. Dass du vielleicht nun einen Platz zum Leben suchst. Aber es scheint so, als sei das falsch, nicht wahr? Du weißt, was du möchtest, aber du glaubst, dass du's nicht erreichen kannst."
« Letzte Änderung: 03. Sep 15, 13:24 von Engonien NSC »
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #22 am: 03. Sep 15, 15:44 »
"Du triffst die Sache auf den Kopf. Das hast du früher schon getan."


Vanion zögerte. Danica war nicht gerade eine vertraute Freundin, aber sie hatte sich stets loyal verhalten und eigentlich immer einen kühlen Kopf bewahrt. Er hatte es genossen, Zeit mit ihr zu verbringen. Kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges hatte es sogar mal eine Liaison zwischen ihnen gegeben, obwohl die Frau ein paar Jahre älter war als Vanion.

Er sah aus dem Fenster. Dort draußen endete der Spätsommer und begann der Herbst. Die Sonne stand leuchtend am mittlerweile nachmittäglichen Himmel - bei den Göttern, sitzen wir schon so lange hier? und schien auf die Dächer Norodars. Bald würde Lorainne den Hochzeitsmummenschanz beginnen und vermutlich Savaric umbringen, seinen Onkel. Oder sie würde bei dem Versuch sterben, sie und ihr ungeborenes Kind. Das Geschlecht von La Follye wäre ausgelöscht. Irgendwo unter derselben Sonne schweifte Anders vermutlich grade durch einen Wald. Benjen de Kyme mochte seine Rüstung anlegen, um einen weiteren von vielen Kämpfen zu führen. Und irgendwo würde die Sonne ein recht frisches Grab erwärmen, in dem Silas nun für immer ruhte.

Doch das war sein altes Leben. Alamars Auge leuchtete auch auf ein kleines Gehöft vor Fanada, wo seine Familie grade arbeitete. Wo seine Tochter herumtollen würde. Wo seine Schwestern Butter stampfen würden, seine Mutter Socken stopfen würde.

"Als der Krieg ausbrach, hatte ich Fanada bereits verlassen. Damals haben wir uns aus den Augen verloren, ich zog mit einem Barden los. Über Umwege gelangten wir nach Ahrnburg, einen Tag nach einer großen Schlacht dort. Wir spielten für die Sieger auf, und am nächsten Tag zogen wir mit diesen Männern und Frauen weiter. Kurzum, wir wurden zu einem Teil des Pilgerzugs. Irgendwann verließ der Barde uns, doch ich blieb dort. Als Waffenknecht, ich diente erst mit einem Trupp aus Sterjak, den Sturmrufern, und dann unter den Männern des Herrn Simon de Bourvis. Kurzum, als Engonia fiel, kämpfte ich in vorderster Reihe. Eine Chevalière aus Caldrien, l'Ecuyère du chevalier Simon de Bourvis, die grade ihren Ritterschlag erhalten hatte und an deren Seite ich gekämpt hatte, bot mir an, in den Knappenstand einzutreten. Nun, das tat ich. Es dauerte einige Zeit und war nicht leicht, aber ich hatte mich als würdig erwiesen, einen solch ehrenvollen Weg beschreiten zu dürfen. Und dann.. dann wurde es immer schlimmer. Dinge geschahen, die mich meine Ideale in Frage stellen ließen. Es kam viel Leid über uns, wir verloren Freunde im Kampf gegen einen hinterhältigen, rücksichtslosen Mörder, der in Caldrien über ein Lehen herrscht. Savaric de Roquefort. Er hatte während des Krieges La Follye, das Lehen der Familie der Chevalière, unter seine Kontrolle gebracht und herrscht dort bis heute mit harter Hand."

Nun endlich griff Vanion zu dem Kelch, der vor ihm Stand, und nahm einen tiefen Zug.

"Es geschah etwas, was mich dazu brachte, auf Knappenstand und Ritterwürden zu verzichten." Unbewegt sahen seine Augen ins Leere, sein Gesichtsausdruck war steinern und leer. Kein Gefühl war zu erkennen, und sein Ton ließ nichts als trockene, kalte Sachlichkeit erkennen.

"Das hat mich nach hier gebracht. Ich bin ziellos, um ehrlich zu sein, und vagabundiere ein wenig durch die Welt. Hier und da versuche ich, zu helfen, aber es fühlt sich leer an. Mir fehlt einfach eine Bestimmung. Mein Leben hatte Sinn und Zweck, erst war's das Streiten gegen Konar und die Ungerechtigkeit, die der Hundekaiser über das Land brachte, dann war es der Kampf für La Follye und die Rache an Savaric. Doch nun? Ich bin nicht dazu geschaffen, Felder zu bestellen oder Schafe zu hüten."
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #23 am: 04. Sep 15, 12:02 »
Schweigen erfüllte den Raum. Danica wusste nicht, was sie sagen sollte - aus dem jungen, ungestümen Haudrauf namens Vanion war ein Knappe geworden? Sie konnte es nicht so recht glauben. Es wollte nicht zu dem Bild passen, dass sie von ihm gehabt hatte. Der Bürgerkrieg hat uns alle verändert, fürchte ich. In manchen brachte er das Schlimmste, in anderen das Beste zutage.

Doch so unglaublich diese Geschichte klang, noch unglaublicher klang, dass Vanion all seine Errungenschaften, seinen Lebensinhalt, aufgegeben hatte. Was brachte einen Mann dazu, das, was er über Jahre erarbeitet und geleistet hatte, dran zu geben und zurückzukehren in sein altes Leben? Ein Leben, das mit siebzehn, achtzehn Jahren geendet hatte? Erneut musterte sie Vanion. Der untersetzte Bursche von früher hatte einige harte Züge im Gesicht bekommen. Seine Schulter, die verletzt war, bewegte er ganz natürlich, als sei es nichts ungewöhnliches, leichte Schmerzen mit sich herum zu tragen. Seine Hände waren teilweise vernarbt, und an seinem Unterarm war ein Streifen heller, frischer Haut zu erkennen, wo er einen Schnitt davon getragen haben musste. Genau einen solchen Schnitt musste er auch am Hals davongetragen haben - bei genauerem Hinsehen erkannte man die Spuren, die die Klinge hinterlassen hatte. Der Mann, der dort saß, war kein Bauer.

Lange dachte Danica nach, was angebracht wäre zu sagen, und auch, was überhaupt helfen würde. Sie nahm sich Zeit für ihre Antwort:
"Denke gut darüber nach, ob das, was geschehen ist, wirklich das Opfer, das du gebracht hast, wert gewesen ist. Du hast einen Eid geschworen und diesen Eid gebrochen. Das bedeckt dich mit Schande."
Ein Zucken glitt über Vanions Gesicht, doch fing er sich rasch wieder. Das hat ihn getroffen.
"Dein Weg hat dich etwas gekostet. Blut, Schweiß und Tränen. Und nun kehrst du in dein altes Leben zurück? Du sagst, du fühlst dich leer; dabei vergisst du, dass es an dir ist, eine Bestimmung zu suchen! Was hat dich denn überhaupt in den Knappenstand gebracht? Die Gunst Dritter?" Eine rhetorische Frage. "Nein", gab sie selbst die Antwort. "Du selbst hast diesen Weg beschritten. Ich weiß nicht, was aus dem Vanion, den ich mal kannte, einen Krieger gemacht hat. Vielleicht war's der Bürgerkrieg, vielleicht war es auch schon immer in dir. Aber eines weiß ich: du hast immer gerne Heldengeschichten gehört, du wolltest immer ein Held sein. Das, was du mir erzählt hast - das erzählen Veteranen des Krieges. Alleine dadurch, dass du Engonia gestürmt hast und überlebt hast, bist du ein guter Mann! Du hast geholfen, das Land von Konar zu befreien, während wir uns hier in Norodar weggeduckt haben. Du, und tausende, zehntausende Andere. Du hast dir einen Platz im Gefüge dieser Welt erkämpft und dann - dann bist du gegangen. Denke gut darüber nach, ob es das Wert war. Denke gut darüber nach."

Unwirsch winkte Vanion ab. "Da gibt es nichts zum Nachdenken. Die Entscheidung ist längst gefallen. Du hast Recht - ich habe mein Wort gebrochen." Und ich habe eine Schuld zu begleichen. Das, was man den Toten schuldet, wiegt schwer.

Erneut erfüllte Schweigen den Raum. Dieses Mal machte Vanion keine Anstalten, das Gespräch wieder aufzunehmen, und auch Danica wirkte aufgeräumt. So sehr sie sich über das Wiedersehen gefreut hatte, Vanions Erzählung hatte ihr nicht gefallen. Der Krieger spürte, dass er hier nicht länger willkommen war. Nach wenigen Minuten stand er auf und setzte zu einer Verabschiedung an, doch Danica kam im zuvor:
"Behalte die Sachen, die du anhast. Uns werden sie nicht fehlen, und dir tun frische Kleider wohl gut. Außerdem lasse ich dir etwas Proviant einpacken, und ein paar Münzen haben wir auch noch für dich. Norodar ist nicht länger deine Heimat, Vanion. Norodar ist's auch nie gewesen. Was immer dich hierher getrieben hat, hier wirst du es nicht finden."

Der Abschied ging rasch vonstatten. Im Innenhof wurde Vanion sein Pferd gebracht, und die versprochenen Dinge. Er nahm die Geschenke dankbar an. Als er aufsaß und sein Pferd wendete, sah er in einem der Fenster des Gebäudes, wie Danica auf ihn herabsah. Als sich ihre Blicke trafen, hob sie still und würdevoll eine Hand. Vanion nickte, dann gab er seinem Pferd die Sporen. Ein Ritt durch die Straßen und Gassen Norodars brachte ihn zum Stadttor, und er verließ die Stadt.


Nur - wohin sollte es nun gehen?
« Letzte Änderung: 04. Sep 15, 13:20 von Engonien NSC »
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #24 am: 07. Sep 15, 10:40 »
Was für ein ekelhafter, verregneter Morgen. Vanion schälte sich aus seinem Bett. Tannenäste, in eine Decke eingeschlagen, unter dem dicken, dichten Dach mehrerer Nadelbäume, hatten für eine weiche Unterlage gesorgt. Sein Pferd, neben dem er lag, für Wärme. Doch die Kälte und die Nässe war während der Nacht dennoch von unten heraufgekrochen, und als er verschlafen in den Morgen sah, sah er vor allem Nebel und Nieselregen.

Viel zu oft hatte Vanion unter dem Himmel oder dem Blätterdach eines Waldes übernachtet, und auch jetzt fand er es schrecklich. Müde bemühte er sich, ein Feuer zu entzünden, und nach einiger Zeit flackerte ein zartes Flämmchen auf. Als er so da saß und sich die Hände am Feuer wärmte, überlegte Vanion. Wohin sollte es nun gehen? Die Begegnung mit Danica hatte ihn ein wenig aufgerüttelt. Lyras Brief fiel ihm wieder ein - fast derselbe Inhalt.

Du kannst nicht einfach untätig bleiben, während die Welt sich weiter dreht! Doch er schüttelte den Kopf. Es ist nichts zun tun für dich. Dein Platz ist zuhause, bei deiner Familie. Niedergeschlagen wischte er sich den Regen aus dem Gesicht. Immer, wenn ein Tropfen durch das Blätterdach drang und in die Flamme fiel, zischte es.

Wie mochte es den anderen gehen? Wie ging es Anders, Lorainne und Benjen? Ob es Rania wohl gut ging? Sasha und die Nordhunde, Gorix, Damian.. Was war mit Lyra und Kadegar? Und Kydora? Vanion schmunzelte, als er an die Schamanin dachte. Du hast dich lange nicht mehr blicken lassen, und mittlerweile wird's wohl die Runde gemacht haben. Es würde schwer werden, seinen Freunden wieder zu begegnen. Also doch wieder zurück nach Hause.

Den ganzen Vormittag saß Vanion trübselig herum. Er hatte kein Ziel, keine Verpflichtungen. Im Grunde konnte er heute Abend in das nahe Dorf reiten und sich betrinken, wenn er wollte. Er könnte auch einen Baum fällen. Warum nicht? Ich könnte auch nackt im Wald tanzen, und niemanden würde es interessieren. Pure Bitterkeit erfüllte Vanion. Ich rotte hier vor mich hin und werde langsam wahnsinnig. Warum bin ich überhaupt von Fanada fortgeritten? Wieder den Helden spielen? Idiot..
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #25 am: 15. Sep 15, 12:45 »
Vögel zwitscherten vom Himmel herab. Die Sonne schien hell, aber nicht allzu warm auf die unter ihr liegende Welt. Ein frischer Wind strich durch die Baumwipfel. Blätter färbten sich langsam golden, rot und braun - der Herbst war da. Rehe streiften durch den Wald, die Nase nah am Boden, nach Nahrung schnüffelnd. Ein Eichhörnchen huschte eine schlanke Birke hinauf.

Vanion lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel. Er lauschte in diese geschäftige Stille hinein. Seit drei, vier Wochen war er nun hier. Über die Zeit war ihm ein leichter, unregelmäßiger Bart gewachsen. Dreck klebte unter seinen Fingernägeln. Doch hier war es auszuhalten. Niemand störte. Trinkwasser und eine Gelegenheit zum Waschen boten die schnell fließenden Bäche und ein naher, kleiner Weiher. Essen lieferte der Wald und die umliegenden Felder.

Südöstlich lag Fanada, und ab und an konnte Vanion Händler beobachten, die auf der nahen Straße in Richtung Norden zogen, um zwischen Tiors Hand und dem Wald von Arden nach Brega zu gelangen, oder weiter noch, nach Caldrien. Caldrien.



Nur wenige Wolken waren zu sehen. Das helle Blau des Weltendachs blendete, und so kniff Vanion die Augen zusammen.

Noblesse oblige.

Hoch am Himmel war ein großer Vogel zu sehen. Ein Bussard? Ein Falke? Vielleicht sogar ein Adler, der seinen Horst in den hohen Bergen im Westen hatte.

Je continue à apprendre. Je ne cesserai jamais d'apprendre. Je ferai ce que la chevalerie et mon seigneur féodal me veut, mieux que je peux.

Plötzlich stieß der Adler, denn das war es, auf seine Beute herab und verschwand aus Vanions Sichtfeld.


Worte. Eide.


Die Bardike lag im feuchten Gras und rostete vor sich hin.
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Re: Auf Reisen.
« Antwort #26 am: 15. Sep 15, 16:34 »
Einige Tage später..

Der Regen prasselte nur so herab. Vanion saß missmutig unter einem Baum, dessen Blätterdach ihn vor dem Gröbsten schützte. Dennoch tropfte Regen auf seinen Schopf, seine Schultern, und rann kalt seinen blanken Rücken herab. Die Beine hatte er an den Körper gezogen, und um sich warmzuhalten, wippte er vor und zurück. Immer und immer wieder glitten Tropfen über seine Stirn hin zu den Augenbrauen, nur um von dort über sein Gesicht zu laufen und endlich zu Boden zu fallen.

Sein Blick, eher ein Starren zu nennen, ging ins Leere. Das beständige Rauschen, das der Regen verursachte, erfüllte seine Ohren. Kalt und mächtig grollte der Donner über den Baumwipfeln. Ab und an zuckte ein heller Blitz durch die Nacht, alles erleuchtend. Jedesmal wurde Vanion geblendet, jedesmal blieb ein Negativabbild der Wirklichkeit vor seinen Augen schweben. Doch er blinzelte nicht einmal. Das Wasser rann an ihm herab. Der Boden war durchtränkt.

Mit einem lauten Krachen schlug ein Blitz nur wenige Meter weg in einen einzeln stehenden Baum ein. Mit einem mörderischen Reißen wurde das Holz gespaltet, der Stamm brach längs entzwei. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde der umfallende Baum Vanion erschlagen, doch die rauchenden Trümmer schlugen ein kurzes Stück vor ihm auf den Boden. Vanion rührte sich nicht einmal. Sein Leben war leer. Ohne Ehre, ohne Loyalität und Vertrauen, ohne Liebe - es machte keinen Unterschied mehr, ob er nun hier war oder sonst irgendwo. Es mochte einen Unterschied für andere machen, doch nicht für ihn. Eine kalte Resignation hatte sich seiner bemächtigt.


Als die Sonne am nächsten Morgen aufstieg, lächelte sie über die Wolken hinweg die Erde an, als würde alles Unglück der Welt sie nicht berühren. Die warmen Strahlen fielen auch auf einen verkrampften Mann, der völlig durchnässt unter einem Baum saß und vor sich hin starrte.



Die Strahlen brachen sich in kleinen Tröpfchen auf einer stählernen Schneide. Die Bardike lag im feuchten Gras und rostete vor sich hin.
"LARP ist nicht ein Hobby, es sind mindestens acht oder so. Ich betreibe etwa fünf davon." RalfHüls, LarpWiki.de

Offline Vanion

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Re: Auf Reisen.
« Antwort #27 am: 21. Sep 15, 10:31 »
Kalt glitt das Geräusch Vanions Rücken herunter. Die feinen Härchen seiner Haut richteten sich auf, eine Gänsehaut überzog ihn. Es tat in den Ohren weh, und zugleich weckte es Erinnerungen an vergangene Zeiten. Dasselbe Geräusch hatte er am Vorabend der Schlacht um Engonia gehört, tausendfach hatte es das Lager der Pilger durchzogen. Denselben Laut hatte es gegeben, damals in Tiefensee, als man vergeblich auf die Rückkehr der Sturmrufer wartete, das Beste hoffend, das Schlimmste erwartend. Im Wald von Arden, im Forêt d'Artroux hatte es diesen Klang gegeben.

Und wie jedes Mal weckte dieser Klang eine Vorahnung. Die Gestalt der Dinge, die da kommen, sie war so klar umrissen und doch nichts weiter als ein Schatten im Nebel der Zukunft.

Krrrssssssss.

Mit äußerster Ruhe und Präzision führte Vanion immer und immer wieder diese Bewegung aus. Scharf erspähte sein Auge Unebenheiten und die rötliche Farbe, die Schwachstellen verriet. Mit Kraft drückte er den Schleifstein auf die Klinge.

Krrrssssssss.

'Die Mauern sind erstürmt! Seht nur, diese Bastarde! Sie werfen die Waffen fort und laufen, fliehen wie Vieh vor dem Schlächter! Die Zeit der Rache ist gekommen!' Fackeln und Rauch und Feuer und Blut und Tod und Wahnsinn. Blau-gelbe Banner, Blau-schwarze Banner. Blut auf seiner Axt, auf seiner Rüstung, in seinem Gesicht. Der Geschmack von Schweiß und Schmerz im Mund. Da sieht er, wie Männer des Pilgerzugs auf einen Trupp am Boden sitzender Gefangener zugehen. Männer Konars, die sich ergeben haben. Vanion stellt sich vor sie, beschützt die Gefangenen vor der Rache der eigenen Mitstreiter. Seine Augen tränen, die Wut und die Trauer des Kampfes fordern ihren Tribut.

Krrrssssssss. Rot rieselt ein wenig Rost herab auf das grüne Gras.

'Vanion, trink noch einen!' Dylans fröhliches Grinsen bringt Vanion zum Lachen. Sie sitzen in einem Fluss - er und Dylan und noch andere. Mitten in der schnellen Strömung sitzen sie und trinken Bier, die Übel der Welt für einen Moment vergessend. Die Sonne scheint ungetrübt vom Himmel und die Schatten des Täuschers sind nicht zu sehen. Doch unter den Bäumen lauert schon jetzt die Dunkelheit..

'Wer seid ihr?' - 'Die Sturmrufer!' - 'Für wen kämpft ihr?' - 'Für Szivar!'
Dylan, Ashgar, Linnea, sie alle stürzen aus dem Wald. Damian erschlägt einen Mann in rot und gelb, mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht. Fassungslosigkeit macht sich breit. Und über den Leichen krächzen die Vögel.. und am Abend erklingt unerträglich leise das Geräusch eines Schleifsteins, der über eine Klinge gezogen wird.


Krrrssssssss. Diese Scharte hier.. woher kam sie noch gleich? Vanion schüttelt den Kopf.

Aldradach. Laute Musik dringt herüber. Der Weg vom Lager in der Dunkelheit hinüber zur Stadt war nicht ungefährlich, doch Vanion ist froh, ihn geschafft zu haben. Ihn begleiten zwei Männer, die behaupten, etwas über eine Flamina Agathe zu wissen. Er ist euphorisch - endlich eine Spur! Doch plötzlich flammt Schmerz in seinem Hinterkopf auf. Sein letzter Gedanke ist, was für ein vertrauensseliger Narr er doch gewesen war.

Krrrssssssss.

'Ich bereite mich in Blanchefleur auf meine Hochzeit vor, Vanion. Wir treffen uns wieder, wenn es so weit ist. Dann brechen wir gemeinsam auf, um zu Savaric de Roquefort zu stoßen. Jacques wird dich begleiten und deine Ausbildung übernehmen. Und so nahm sie ihren Anfang, die Kette von Ereignissen, die bis heute sein Leben bestimmen sollte. Diese Kette war zersprungen und gebrochen.

Ein letzter, prüfender Blick. Sein Daumen glitt über die Schneide. Keine Spur von Rost war mehr zu erkennen. Das Axtblatt glänzte in der Sonne. Sanft legte Vanion die Waffe beiseite, umsichtig sorgte er dafür, dass das Metall das feuchte Gras nicht berührte, sondern auf einem dicken Stein zu liegen kam. Dann kniete er sich hin und faltete die Hände. Gewiss zwei, vielleicht drei Stunden ruhte er so und ging in sich. Still und leise flehte er Lavinia um Rat und Hilfe an, laut, doch demütig betete er zu Alamar, auf dass der Hohe Gott ihn gerecht und im Lichte seines gesamten Lebens und nicht nur aufgrund einer einzigen Tag beurteilen möge. Kraftvoll drang seine Stimme empor und rief Tior um Stärke und Mut an.

Und mit dem ersten Licht des nächsten Tages ritt er fort. Die Zeit hatte ihm eines gezeigt: er war vieles, aber kein Bauer. Endlich hatte er wieder ein Ziel vor Augen. Die ganze Zeit hatte es offen vor ihm gelegen, ihm hatte lediglich der Mut gefehlt, diesen Schritt zu gehen. Doch es war die einzige Tat, die richtig war. Die seinen Idealen genügen konnte. Denn soviel hatte Vanion erkannt: was andere von ihm hielten, war ihm nicht wichtig. Aber sich selbst nicht in die Augen sehen zu können - das war etwas, was er nicht länger ertragen konnte.

"LARP ist nicht ein Hobby, es sind mindestens acht oder so. Ich betreibe etwa fünf davon." RalfHüls, LarpWiki.de