"Meiner Mutter geht es großartig. Sie scheucht meine Schwestern fleißig hin und her, und mittlerweile auch deren Ehemänner."
Danica war vor vielen Jahren ein Mädel aus der Nachbarschaft gewesen, das Vanions Mutter geholfen hatte, die Kinder zu hüten. So hatte sie Vanion kennengelernt, und bei einem der Besuche, die Vanions Familie in Norodar gemacht hatte, nachdem sie längst fortgezogen waren, hatten die beiden sich immer wieder mal wiedergetroffen.
Irgendwo hier, das wusste der ehemalige Knappe, gab es noch mehr Verwandte von ihm. Seine Mutter hatte hier irgendwo eine Tante gehabt, die zwar mittlerweile verstorben war, aber die selbst vier oder fünf Kinder bekommen hatte. Vielleicht lebte der Onkel sogar noch.
Die Zeit verging nun wie im Fluge. Danica und Vanion tauschten sich aus, über Dinge, die in Vanions Leben, und Dinge, die in Danicas Leben geschehen waren. Danica war schon immer ein Wildfang gewesen, eine starke Frau, die sich nie etwas hatte vorschreiben lassen. Mit etwas Wehmut musste Vanion plötzlich an Lorainne denken, vor allem, als Danica erzählte, wie sie gegen den Widerstand ihres Vaters der Wache von Norodar beigetreten war. Dort hatte sie erst bei Übungskämpfen einige Männer vorführen müssen, bis man sie ohne blöde Sprüche akzeptiert hatte. Durch gute Arbeit stieg sie rasch auf, bis auf den Posten, auf dem sie nun war.
Freimütig erzählte Danica mehr und mehr von sich selbst, während Vanion entschlossen Fragen nach den letzten zwei, drei Jahren in seinem Leben auswich. Doch irgendwann sagte Danica: "Wann immer ich dich nach irgendetwas frage, was nicht gerade 10 Jahre her ist, weichst du mir aus. Du hast mir erzählt, dass du im Bürgerkrieg gekämpft hast, auf Seite der Widerständler, doch die Zeit danach scheinst du aus deinem Gedächtnis verbannen zu wollen. Warum? Was ist geschehen?"
Unruhig rutschte Vanion auf seinem Stuhl ein wenig hin und her. Diese ganze, lange Geschichte. Der Fall Engonias, die Queste im Namen Alamars. Die Aufnahme in den Knappenstand und der Eid, den er schwor, den er durch Taten und Worte bekräftigte. Lorainnes Entführung. Die Suche, die nicht enden wollende, ewige Suche, bis im letzten Moment aus purer Hilflosigkeit Hoffnung erwuchs! Alles war verloren, bis der Grüne Ritter, Jules de la Follye, erschien und diesen Sturmangriff den Berg hinunter ritt! Und dann die Heilung Lorainnes. Die Lüftung des Geheimnisses um seine Herkunft. Das Schützenturnier Roqueforts, wo sie alle fast gestorben waren. Westmynd, wo er bis zuletzt gestanden hatte, nur um dann vor Lyra zusammenzubrechen. Silas.
Das alles stürmte auf ihn ein. Jeder Moment, jeder kleinste Moment dieses Lebens, das er geführt hatte, bedrängte ihn, bekämpfte ihn, umschmeichelte ihn. Erinnerungen bohrten sich ihren Weg in seinen Schädel. Das Tagebuch! Er sah sich selbst, wie im Zeitraffer, die Seiten durchblättern, die so vieles über Lorainnes Leben verrieten. Sein Lächeln, als er die Zeilen über Luthor Kaen laß. Die falsche Spur, die sie mit Gorix' Hilfe verfolgt hatten, in den Sümpfen Andarras. Maugrims wölfisches Grinsen, als sie über Roqueforts Strafe sprachen. Und Silas, immer wieder Silas!
"Ist.. ist alles in Ordnung, Vanion?"
Die helle, kräftige Stimme riss ihn aus seinen Tagträumen heraus. Lange war er nicht mehr jemandem so dankbar gewesen für eine solch einfache Frage. Er wischte sich den Schweiß von seiner Stirn - ich schwitze?! Es ist kühl hier drin! Seine Hände zitterten, und entschlossen griff er nach der Karaffe mit Wein, die auf dem Tisch stand. Diesmal hielt er sich nicht damit auf, den Wein zu verdünnen. Rasch füllte er den Kelch, dann setzte er ihn an und - setzte ihn entschlossen wieder ab.
Maßlosigkeit, Verdrängen und Verstecken ist nichts, was einem Ritter würdig ist! Doch er war kein Ritter - und würde nie einer sein. Dennoch, der Kelch blieb unangetastet stehen. Die Oberfläche der tiefroten Flüssigkeit bebte ein wenig, und ein einzelner Tropfen rann die silbrige Außenseite herab und benetzte die weiße Tischdecke. Wie Blut sah es aus.
Den Blick auf den Weinfleck gerichtet, schüttelte Vanion den Kopf. "Nein, Danica. Es ist nichts in Ordnung." Er seufzte tief, dann holte er Luft. "Ich.. ich bin in eine Situation gelangt, aus der es keinen guten Ausweg mehr gab. Also hab ich das einzige gemacht, was mir noch als richtig erschien: ich bin gegangen."