Es war ein verregneter Frühsommertag auf Goldbach, aber heute schlug die Nässe niemandem auf's Gemüt.
Nach einer ausgiebigen Plantsch-Tour durch sämtlichen Pfützen im Innenhof stand Fleur mit ihrer kleinen Tochter in der Halle und zog dem Mädchen trockene Kleider an.
"Mama, kann ich Würstchen haben?", fragte die Kleine mit den langen, blonden Zöpfen.
"Amí, wie heißt das Zauberwort?!", rügte Fleur mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Mama, kann ich bitte ein Würstchen haben?", korrigierte sich die Dreieinhalbjährige.
Zufrieden lächelnd nickte die Wäschemagd ihrer Tochter zu. "Lauf in die Küche und frag Manon. Sie hat bestimmt ein Würstchen für dich."
"Jaaaaaaa!", rief Amelíe begeistert und rannte durch die Halle, zwischen Bänken, Tischen, Hockern, Truhen und vielen Leuten hindurch in Richtung Küche. Das Kind trug über einem schlichten, naturweißen Unterkleid ein Überkleidchen aus grünem Leinen, abgesetzt mit einer von Fleur gefertigten Rankenstickerei, eine kleine Schürze und einfache Schnürsandalen aus Leder. Um den Hals lag eine hübsche Kette aus lackierten Holzperlen, die der ganze Stolz des Mädchens war. Die dicken Zöpfe waren mit grünen Bändern zusammengebunden.
Zugleich lächelnd und kopfschüttelnd sah die Wäschemagd ihrer Tochter hinterher, während sie die nasse Kleidung der Kleinen aufhob und sie zum Trocknen über eine zwischen zwei Balken gespannte Schnur im Gesindebereich hängte.
Das Mädchen war sehr glücklich hier in Goldbach. Ihre Oma und ihre Tante kümmerten sich liebevoll um sie, wenn Fleur die Baronin auf deren Reisen begleitete. Aber dennoch konnte jeder sehen, wie sehr Mutter und Tochter es genossen, Zeit miteinander zu verbringen.
Amelíe war ein außergewöhnlich aufgewecktes Kind. Sie war zwar Fremden gegenüber schüchtern, holte sich jedoch ihre Portion Aufmerksamkeit von allen, denen sie vertraute.
Im Stall half sie beim Füttern der Tiere und sie liebte es, die Pferde zu striegeln und hoch auf deren Rücken ein paar Runden im Hof zu reiten.
Den Schreibgelehrten sah sie immer wieder neugierig über die Schulter; inzwischen konnte sie einige Buchstaben auseinanderhalten und erkannte zuverlässig das "A". ("Schau mal, ein 'A', wie Amelíe!")
Und immer wieder erklang ihre glockenhelle Kinderstimme, wenn sie sich die Zeit mit Singen vertrieb. Dabei unterschied sie nicht, ob es für ihre jungen Ohren geeignete Lieder, oder eher die zotigen Texte der Erwachsenen waren...