Jahresanfang 268 n.J. - die BibliothekMarius hatte offiziell die Erlaubnis erhalten, für die Arbeit in der Bibliothek den Lichtzauber zu benutzen - nicht dass er das nicht privat eh schon tat, aber mit der Genehmigung fühlte er sich sicherer, und insbesondere genoss er dieses kleine Privileg immens. Er bewegte ein wenig die Hand, und bewunderte die Schatten, die über die Bücherregale tanzten.
Die Gräfin Klara hatte ihn immer noch nicht aufgefordert, seinen Vortrag über Pegelmagier zu halten. Er bezweifelte aber keinen Augenblick, dass sie sich sehr wohl daran erinnerte, und nur darauf wartete, ihn in einem unvorbereiteten Moment zu erwischen, um ihn nach allen Regeln der Kunst zu blamieren. Die Genugtuung wollte Marius ihr nicht geben, deshalb durchsuchte der Lehrling die Bibliothek manchmal spätabends nach geeigneten Quellen, um den Vortrag mit mehr Inhalt zu füllen.
Frustrierenderweise hatte sich wohl die Bibliothek gegen ihn verschworen. Er fand kaum etwas, was er sich nicht auch schon bei den Tagen des Lernens angelesen hatte. Grad las er eine fast zehn Jahre alte Abhandlung zu diversen magischen Substanzen, geschrieben von einem Magister Florian Phelleas Phönixflug in einer kaum entzifferbaren Schrift - und das war gerade schon das vielversprechendste.
Kurz erwog er ernsthaft, ein Gebet zu Elja zu schicken, doch die Halbgöttin des Wissens hatte sicher besseres zu tun, als einem Lehrling bei einem Referat zu helfen, adlig hin oder her.
Nein, er brauchte einfach eine Pause. Er legte die Abhandlung beiseite, ging zu einem Regal, zog "Der vierbeinige Pfeil" heraus, und legte das Buch vor sich auf den Tisch.
Nachdem Runa
vor einigen Tagen erwähnt hatte, dass sie das Buch gelesen hatte, hatte Marius die Bibliothek danach durchsucht. Er hatte nicht gedacht, dass er das Werk außerhalb seiner Heimat mal sehen würde, handelte es sich doch um das Hauptwerk eines remoranischen Kriegsherren. Schließlich hatte er die Ayd'Owl-Ausgabe in einer hinteren Ecke gefunden, zwischen einem Bestimmungsbuch für Staubgolems und einem Wörterbuch der Korbflechtkunst.
Die Ausgabe sah wesentlich anders aus als ihre zerlesene Schwester in der Bibliothek seines Großvaters - insbesondere so, als hätte sie jemand vor Jahren in den Schrank gestellt und als hätten seitdem nur Runa und er sie jemals aufgeschlagen.
Romilda beschrieb in dem Buch unter anderem strategische Formationen der Kavallerie und schwärmte dabei von der Geschwindigkeit, die Pferde boten. Marius blätterte zu der Stelle, die dem Buch seinen Namen gab.
"Wie vierbeinige Pfeile", so schrieb Romilda, "flogen unsere Pferde der gegnerischen Infanterie entgegen, die sich, des Anblicks gewahr und dessen nicht gewohnt, teils zu Boden niederwarf mit Gebeten zu den Göttern, die die Heiden anbeten, dass der Tod schnell kommen möge, teils aber in alle Winde zerstreute, sodass wir bald schon siegreich an unseren Lagerfeuern saßen, während der Barde die Erfolge, die wir im Namen des glorreichen Kaiserreiches, dessen Grenzen auf ewig in Sicherheit stehen mögen, errungen hatten, besang."
Marius gähnte. Romilda mochte ein brillianter Stratege gewesen sein, doch eins war er gewiss nicht, ein brillianter Autor. Seine Sätze schienen einfach nicht zu wissen, wann sie aufhören sollten, und die Metapher mit dem vierbeinigen Pfeil war äußerst bemüht. Nein, Marius las das Buch nicht wegen dem literarischen Wert, sondern weil es ihn an seine Heimat erinnerte.
"Die gegnerischen Soldaten stellten, obwohl uns an Zahl überlegen, keine ernsthafte Gefahr für uns dar, da unsere Truppen sowohl an Ausbildung als auch an Tapferkeit dem Gegner, der sich häufig, seiner Schwächen bewusst, feige zwischen den Hügeln und Bergen, die in diesem Land so zahlreich sind, versteckte, ..."
Marius merkte, dass die Worte vor seinen Augen vor Müdigkeit verschwammen. Er konnte sicher den Kopf niederlegen... nur ein paar Augenblicke.
Nach einer Weile ging das Licht seines Zaubers aus, und es war nun dunkel in der Bibliothek. Dann war es auch still, bis auf das gleichmäßige Atmen eines einzelnen eingeschlafenen Lehrlings.