Schlaftrunken richtete Jenna sich auf. Benommen sah sie sich um, ihr Blick traf den ihrer Tochter, die sie herzlich anstrahlte. Verwirrt strich die Frau über die warmen Decken, genoss das kuschelige Gefühl des Bettzeugs um sich herum. Dann schaute sie erneut Malla an, welche nun ihrerseits deutlich auf Jennas Oberweite blickte. Die Mutter nahm das kleine Mädchen an die Brust und sortierte dabei die vielen Eindrücke, Gedanken und Gefühle, die auf sie einstürzten.
Was war passiert? Sie war gestern auf der Suche nach einer Heilerin, die gegen Mallas Erkältung helfen konnte, hierher gekommen. Sie hatte angeboten bekommen sich zu waschen, zu stärken und auch hier zu übernachten. Sie war müde gewesen. Krank, geschwächt. Hatte kaum einen klaren Gedanken fassen können. Da war so viel Angst in ihr gewesen. Warum? Weil Jelena und Wassilij zum gleichen Volk wie ihre Eltern gehörten, darum! Und weil es keinerlei Sicherheit geben konnte, dass sie nicht Verbindung nach Engonia aufnehmen würden, sobald klar wurde, wer sie war und wo sie herkam. Denn so war es doch mit diesem Volk, oder?! Man war sich immer irgendwie verbunden, besonders in der Fremde. 'Blut ist dicker als Wasser!' Vor allem, wenn es altmodisches, traditionsbewusstes Blut war! Sie hatte Angst gehabt, verraten zu werden. Verkauft zu werden. Sie hatte um des Kindes Willen die Nacht in dem großen Haus mit seinen warmen Kaminen und dem Essen verbringen wollen. Aber sie hatte nicht schlafen wollen! Sie hatte wach bleiben und am frühen Morgen wieder verschwinden wollen! Und nun wachte sie hier in einem Bett auf, in einem Raum mit nur einer Tür! Und früh am Morgen war's auch nicht mehr, draußen war's ja schon hell! Was war passiert? Sie erinnerte sich noch an das Abendessen. Irgendwann hatte Jelena neben ihr gesessen, Malla auf dem Arm. War das vor oder nach dem Essen gewesen? Sie wusste es nicht. Was war dann passiert? Wie war sie hier hoch gekommen?
Sie sah auf den Schemel, der neben ihrem Bett stand. War da etwa jemand bei ihr geblieben? Hatte jemand über sie gewacht? Warum? Um ihr zu helfen, oder um sie zu kontrollieren?
Ihr Blick wanderte zu ihren Sachen, die nun trocken waren, weil sie jemand dafür ausgebreitet hatte. Zum Becher mit der Medizin auf dem Nachtschrank.
Macht sich jemand derartig viel Mühe für jemanden, den er nicht kennt? Macht man sich soviel Mühe, wenn man etwas dafür erhält, dass man denjenigen noch ein bisschen festhält, bis jemand anderes kommt, um ihn abzuholen? Es wollte alles keinen rechten Sinn ergeben. Ersteres passte am ehesten zum Gebaren der Leute, die sie hier angetroffen hatte. Freundschaftlich, herzlich, fürsorglich. Aber galt das auch für Fremde wie Malla und sie?
Jennas Bauch gab ein lautes Geräusch von sich. Malla ließ satt und zufrieden von der Brust ab.
"Wie dem auch sei. Heute fühle ich mich sehr gut. Stark. Lass uns frühstücken gehen, Malla!",
sagte die Frau zu ihrer Tochter, die sie aus großen Augen erwartungsvoll anschaute. Jenna schlug die Decke zurück und zog sich an, während sie zwischendurch immer wieder von ihrer Medizin trank, bis der Becher leer war.
Jenna war gewillt, den Leuten hier eine Chance zu geben. Sie gestattete sich die Hoffnung, dass sie sie nicht ausliefern würden. Ihr kleines Mädchen auf dem Arm, ihre Habe sorgsam auf einem Stapel zusammengelegt im Zimmer zurücklassend, suchte sie den Weg zum Frühstück...