"Doch, bist du." Vanion ging zu seinem Tisch hinüber, griff eine Tonkaraffe und zwei Zinnbecher und schenkte sich und Anders etwas Wein ein. Es war nicht der beste Tropfen, aber solide. Er hatte ihn auf Ferdis Empfehlung gekauft, das beste Preis-/Leistungsverhältnis, das Brega zu bieten hat. Den vollen Becher bot er Anders an.
"Ich bin so wütend geworden, weil ich Knappe werden wollte! Seit dem Pilgerzug hab ich alles daran gesetzt, den Knappenstand zu erreichen. Ich bin nicht von Stand, ich bin kein Caldrier! Das.. das geht nicht! Das ist nicht vorstellbar! Es war schon schlimm genug, dass Lorainne.. gut, ich fange von vorne an. Wunderst du dich nicht, dass Lorainne eine Chevlière, eine Ritterin ist? Du magst noch nicht viel herumgekommen sein, aber ist dir ein anderer weiblicher Ritter begegnet? Ich denke doch, dass dem nicht so ist." Nun stieß Vanion an und nahm einen tiefen Schluck. "Lorainne gab sich vor Jahren als 'Antoine', als ihr kleiner Bruder aus, um von Simon de Bourvis in den Knappenstand erhoben zu werden. Sie schnitt sich die Haare, band ein Tuch um ihre Brüste und ritt breitbeinig auf einem Pferd, sehr undamenhaft von ihr. Das ging lange gut, sie wurde lange nicht erkannt - doch irgendwann zog sie sich im Kampf eine böse Verletzung am Oberkörper zu. Stell dir das Gesicht des Heilers vor, als er ihr Gewand aufriss und er sah, dass Antoine nicht gänzlich männlich war." Luthor muss wirklich verdutzt ausgesehen haben.. was wäre ich gerne dort gewesen. Andererseits.. war das nicht vor Caer Conway? Egal. "Nun, Simon war an seinen Eid ihr gegenüber gebunden, ganz so, wie sie ihrem Eid Folge leisten musste. Also beschloss Simon, ihre Ausbildung zu Ende zu bringen - und schwor, sie in dem Moment, in dem er sie zum Ritter schlagen würde, er eine Herausforderung zum Duell aussprechen würde, um ihrer beider Ehre wiederherzustellen. Weißt du, Anders, das ist schon ein paar Jahre her - ich selbst hab damals noch meines Vaters Felder bestellt und kannte keinen dieser hohen Herren, mit denen ich jetzt zu tun habe."
Vanions Gedanken schweiften ab, zu den Erlebnissen vor und auch während des Pilgerzuges. Im Geschichtenerzählen fühlte er sich wohl, merkte er. Fast wie früher, dachte er mit einem inneren Grinsen.
"Nachdem Engonia erobert war und Konar tot, schlug Simon Lorainne zum Ritter. Und dann warf er ihr seinen schweren Panzerhandschuh ins Gesicht und schritt ohne ein Wort zu verlieren hinaus. Andere Herren versuchten ihn umzustimmen, von seinem Eide abzulassen, doch Simon, der dereinst Lorainne dazu gezwungen hatte, sich mit dem Knappen eines seiner besten Freunde zu duellieren, .." Vanion unterbrach sich, als er Anders' fragenden Blick sah. "Nun, diese Geschichte kennst du auch nicht? Versprich mir, Simon danach zu fragen. Er weiß besser, wie das geschehen ist, als ich. Jedenfalls - wo war ich? Genau. Also, das Duell fand statt. Auf einer der Grenzwacht-Feierlichkeiten, und frag mich nur nicht, warum diese Feste 'Grenzwacht' heißen - die beiden schlugen wild aufeinander ein, bis Simon blutend am Boden lag, Lorainne weinend über ihm. Er hatte sich gegen Lorainnes letzten, tödlichen Schlag nicht gewehrt. Du musst wissen - " Seine Stimme senkte sich. Er sprach laut genug, um verständlich zu sein, aber man merkte dem Knappen an, dass er grade nicht Anders ansah, sondern seine Augen nach innen gerichtet hatte - auf den Moment, den er selbst miterlebt hatte. Er selbst hatte Lorainne von dem erkaltenden Körper Simons weggezogen, und auch das nur mit Hilfe zahlreicher Freunde. "- dass Simon für Lorainne wie ein Vater war. Ihr eigener Vater, so hieß es, war als Verräter an der Königin gebrandmarkt und gehängt worden, wie ein räudiger Mörder. Und sie selbst hatte das Schwert in Simons Brust gestoßen! Irgendjemand erklärte das Duell für beendet, und Simon verlor das Bewusstsein. Für immer, wie ich erst dachte, doch war noch ein Funken leben in ihm. In diesem ausgebrannten, alt gewordenen Ritter, der alles für seine Ehre, seine Familie, seine Königin und auch für sein Land geopfert hatte, steckte noch Leben! Doch wochenlang schlug er die Augen nicht auf, monatelang lag er darnieder, und Lorainne wich kaum eine Sekunde von seinem Krankenbett. Schließlich.. schließlich fanden fähige Heiler heraus, was ihm fehlte." Ich habe geschworen, nie ein Wort über diese Geschehnisse zu verlieren - und das werde ich auch nicht tun. Es tut mir Leid, Anders. Der Knappe griff zu einer kleinen, aber stimmigen Lüge. "Er wurde geheilt.
Zwischenzeitlich hatte Lorainne mich zum Knappen genommen, und damit meinen Traum erfüllt. Ich hatte im Pilgerzug meine ersten Kämpfe überhaupt, meine ersten wirklichen Schlachten geschlagen, und hatte mich dort wohl bewiesen, so perfide das auch klingt. Ich war nicht nur gut darin, Feinde zu töten und selbst zu überleben, ich schien auch schnell denken zu können. Auch konnte ich lesen und schreiben, sodass ich einen gewissen Wert für die Kommandanten des Zuges besaß. Über kurz oder lang konnte ich jedenfalls, wenn auch als Waffenknecht und Bote, an der Seite oder eher zwei Schritte hinter all den hohen Herren und Damen meinen Teil leisten. Doch ein Bauer aus Tangara, geboren ohne jeden Stand, ohne auch nur einen Tropfen adeligen Blutes, ein Knappe? Das ging nicht. Also bekam ich eine Aufgabe gestellt: die Gebeine einer Heiligen Frau, einer Flamina, einer Priesterin des Alamar, zu suchen und zu finden. Das kostete mich zwei Jahre, aber schließlich und endlich bewältigte ich diese Aufgabe, und mit der Anerkennung der Priesterschaft Alamars wurde ich zum Knappen Ohnestand und Ohneland - aber zum Knappen."
Nun gönnte er sich eine Pause, trank seinen Wein aus und füllte gleich nach. Er wollte sich nicht betrinken, aber das Reden trocknete seinen Mund aus. Zumal Vanion die Ereignisse, von denen er erzählte, im Geiste nochmal erlebte.
"Und dann - Achtung, jetzt kommen wir zu dem Teil, der mein Verhalten erklärt - denke ich, dass endlich meine wirkliche Ausbildung zum Knappen losgehen kann. Das Land ist vielleicht nicht friedlich, aber befriedet, die Krieger sind zu ihren Frauen zurückgekehrt, Tailon Orikos, dieser verfluchte Ort, ist zerstört, und es scheint so, als ob das Leben endlich wieder in normalen Bahnen verläuft. Ich hatte mich mit meinem Vater versöhnt - auch das eine Geschichte für einen anderen Abend -, und fast ein Jahr in Abgeschiedenheit in einem kleinen Dorf namens Schlagbaum verbracht, wo ein Knecht Lorainnes mich in der Waffenkunst und auch ein wenig in höfischem Benimm unterwiesen hatte. Irgendwann sollte ich jedoch Lorainne begleiten, in ein gewisses Lavinia-Kloster in der Baronie Blanchefleur, wo sie nach Beweisen suchte - nach Beweisen für die Unschuld ihres Vaters und die Schuld Roqueforts, den sie doch schließlich heiraten wollte. Den Rest der Geschichte kennst du."
Anders machte nicht den Eindruck, als ob Vanions Geschichte sie erhellt hätte. Also fuhr er fort:
"Der Krieg war vorbei! Der Szivarskult war in seine Schranken verwiesen, wenn auch nicht ausgerottet! Die Toten des Krieges, Freunde, Kumpanen, beerdigt, betrauert, und endlich in Frieden! Normalität war in unser aller Leben zurückgekehrt, und ich wollte nur noch eines: wirklich Ritter werden! Den Idealen des Rittertums hinterhereifern. Ich wollte mich nicht im Schlamm eines caldrischen Waldes wiederfinden, mit einem aufgeschlagenen Schädel. Ich wollte nicht Lorainne hinterherjagen, ich wollte völlig egoistisch sein und einfach nur mein neues Leben leben, dass ich mir hart erarbeitet habe!" Kurz kam dem Knappen der Gedanke, dass doch genau das die Essenz des Rittertums war - das Beste zu leisten, egal, was man selber wollte. Aber so weit war er einfach noch nicht, trotz seiner Ideale. Er schüttelte den Gedanken ab.
"Es ist schlimm genug, Freunde zu verlieren. Wie die Sturmrufer, damals in Tiefensee, gelobt sei ihr Andenken. Aber Lorainne zu verlieren? Sie war immer meine Bezugsperson, sie war diejenige, der ich gefolgt bin. Sie.. sie hat mich einmal verprügeln lassen, weil ich einen ihrer Kelche auf einer Feierlichkeit verloren hatte. Jacques, dieser Knecht, von dem ich eben sprach, hat mich körperlich durch die Hölle gejagt in diesem Kaff, und abends ließ er mich noch caldrische Poesie - und glaub mir, dieser Schmutz hat den Namen 'Poesie' nicht verdient - lernen lassen. Ich hab im Pilgerzug getan, was ich musste und was ich konnte. Aber ist es zuviel verlangt, ein wenig Frieden zu wollen?" Nun klang er definitiv selbstmitleidig.
"Versteh mich nicht falsch. Ich möchte, dass es Lorainne wieder gut geht, und ich glaube fest daran, dass wir Roquefort, so er der wirkliche Schuldige ist, seiner gerechten Strafe zuführen werden. Aber egal, was geschieht, immer ist irgendwo irgendwer, der es versaut! Es ist mir egal, ob Wassilij seinen ominösen Meister oder seine Schüler bereits eingeweiht hat oder nicht. Er weiß, worum es geht, er weiß, was Lorainne mir bedeutet. Ich habe Angst, sie zu verlieren, und auch, wenn ich genau weiß, dass ich nicht an ihrem Schicksal Schuld trage, so frage ich mich doch, ob ich nicht schneller - oder langsamer, aber beherzter und ruhiger - diesen Hügel hätte hochlaufen können. Ich bin ein Knappe, und trotzdem nennst du mich Hauptmann, trotzdem hab ich euch angeführt. Und das gewiss nicht schlecht, ihr lebt alle noch, und wir haben Lorainne wieder. Ich bin so wütend, weil - einfach weil ich schlucke, und schlucke, und schlucke, was immer geschieht. Ich handle nach bestem Wissen und Gewissen, aber es wird nicht besser. Und wenn dann Wassilij, der bisher eher ein Klotz am Bein als eine Hilfe war, auf solche hinverbrannten Ideen kommt, dann ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Auch wenn es mir Leid tut, schon jetzt."