"Anders hat es bereits sehr gut berichtet, doch hat sie einige Details ausgelassen und sehr schnell gesprochen. Fangen wir von vorne an. Nach dem Bürgerkrieg kehrte, wie ihr alle wisst, ein brüchiger Frieden ein, der bis heute hält. Die meisten Dinge begannen, geregelte Wege zu gehen, und in Firngard begann man, aufzuräumen. Während des Krieges war Jules de La Follye, Lorainnes Vater, beschuldigt worden, mit dem Lupus Umbra" - Vanion wandte sich an die Äxte, "einem Ritterorden, der dem alten Weg Tiors folgte und den falschen Kaiser Konar stützte, zusammen zu arbeiten. Dafür wurde er vermeintlich aufgehängt, als Verräter."
Ein rascher Blick zu Lorainne überzeugte Vanion, dass es in Ordnung wäre, fortzufahren. Er hatte noch nie die ganze Geschichte erzählt, und erst recht nicht einem Kreis von Menschen, die er nicht allzu lange kannte.
"Nun, ein Teil dieses Aufräumens war es, die Streitigkeiten zwischen La Follye und Roquefort beizulegen. Die beiden Familien sind seit langem entzweit und im Streit, und Lorainne hatte Grund zu der Annahme, dass die vermeintlichen Verbrechen ihres Vaters die Frucht eines Komplotts waren und die Anschuldigen haltlos.
Doch sie hatte keine Beweise, und Savaric de Roquefort war das Lehen der La Follyes zugesprochen worden. Antoine, Lorainnes Bruder und der Erbe von Jules, war tot. Lorainne selbst war im Krieg. Um nach dem Krieg weiteres Blutvergießen zu verhindern, sollte Lorainne de la Follye ebenjenen Savaric de Roquefort ehelichen, auf Geheiß des Barons von Blanchefleur.
Ich selbst, gemeinsam mit einigen tapferen anderen Seelen, begleitete Lorainne in den Forêt d'Artroux." Vanion sah bereits jetzt, wie Lorainnes Haltung angespannt wurde, doch er fuhr fort: "Wir wollten den Wald durchqueren, um die Braut dem Bräutigam zu bringen. An einem Treffpunkt sollten wir Wachen und Gardisten von Savaric begegnen, doch wir kamen gar nicht so weit. Pfeile kamen aus den Bäumen, und vermummte Männer rannten auf uns zu. Ich sah, wie Lorainne ihr Schwert zog und einen erschlug, dann wurde sie vom Pferd gezerrt. Um mich herum fielen die Männer, und ich selbst - ich weiß nicht, was geschehen ist, doch mir wurde schwarz vor Augen. Stunden später wachte ich auf, Blut lief mir vom Kopfe über das Gesicht. Man hatte mich für tot gehalten und liegen gelassen."
Den Blick voll Dankbarkeit, sah Vanion Anders an. "So hab ich den kleinen Kender hier kennengelernt. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie, gemeinsam mit der Dame von York, meine Wunde verbunden. Auch Bran hab ich dort zum ersten Mal gesehen. Nun, ich möchte ein wenig abkürzen. Lorainne war entführt, und wir wussten alle nicht weiter. Wir durchsuchten den Forêt, so gut es ging, doch fanden wir nichts, außer ein paar Spuren, die alt waren und aus dem Wald herausführten. Wir begegneten an diesem Tage bereits den Männern des Grünen Ritters - sie halfen uns, als wir auf Banditen und auch auf Diener des verfluchten Täuschers stießen. Wir fragten uns, ob die Szivarspaktierer und Lorainnes Entführung etwas miteinander zu tun hatten, doch konnten wir keine Antwort finden."
Seine Kehle war trocken, und so hob Vanion den Krug und nahm einen tiefen Schluck. Er sah in die Runde: gebannte Gesichter. Hier und dort sah er, wie ein Blick ins Leere ging - Bran schien sich zu erinnern, Anders jedoch schien mit den Gedanken woanders zu sein und über etwas zu grübeln.
"Über ein Jahr lang suchten wir nach Lorainne, verfolgten Spuren, wurden immer verzweifelter. Am Ende führte unsere beste Spur zurück in den Forêt d'Artroux, dort, wo alles begonnen hatte. Solch eine Suche braucht Mittel, Geldmittel. Wir wurden von Savaric bezahlt. Die ganze Zeit. Er ließ uns im Kreis laufen, und er wusste stets, was wir taten. Nun, zumindest wusste er darüber Bescheid, wann wir in Caldrien ankamen. Und so ließ er uns auch dieses Mal in den Wald hineinlaufen, und lockte uns in einen Hinterhalt. Wir überlebten und fanden eine Note, die Savarics Befehle beinhaltete. Der Regen hatte fast alles unleserlich gemacht, doch das R, mit dem unterschrieben war, konnten wir klar erkennen. Am Ende - am Ende konnten wir Lorainne retten. Doch nur mit Hilfe des Grünen Ritters! Als wir den Ritualplatz betraten, hatten wir keine Wahl, als in diese geifernde, stinkende, blutbespritzte Horde hineinzurennen und um uns zu schlagen, so gut es nur ging. Es sah schlecht für uns aus, und niemand hätte diesen Wald wieder verlassen, wenn nicht, mit der Sonne im Rücken, der Grüne Ritter selbst, zu Pferde, uns gerettet hätte. Er ritt auf einem Pferd durch diesen Wald, und niemand konnte seinem Schwert widerstehen. Seine Männer schossen Pfeil um Pfeil in die Bäuche der Kultisten, und gemeinsam schafften wir es, Lorainne zu retten.
Jetzt, da wir wissen, was mit Tannjew und wohl auch mit Savaric geschehen ist, glaube ich, dass dieses Ritual einzig einem Zweck dienen sollte: Lorainnes Herz durch eines aus Stein zu ersetzen." Erstaunen stahl sich auf die Gesichter der anderen, als sie sahen, dass Vanion lächelte und Lorainne liebevoll ansah.
"Nun, wir kamen rechtzeitig. Ihr Herz ist ganz das ihre und wohlauf, das kann ich vor Göttern und Menschen bezeugen." Bei diesen Worten sah er Benjen ernst an. Er hoffte, auch die letzten Zweifel, die der Ritter vielleicht hatte, ausräumen zu können.
"Benjen, ich möchte Euch nicht noch mehr verletzen - macht euch mit den nächsten Worten keine Hoffnungen! Es gehört zur Geschichte, es zu erzählen, sonst würde ich darüber schweigen.
Ich kniete also vor Lorainnes geschundenem, geschlagenen Körper, ihren Kopf in meinen Händen, und weinte vor Freude. Da schwang sich der Grüne Ritter aus dem Sattel und kniete sich über sie. Den Helm hatte er abgenommen, doch war sein Gesicht von grünem Tuch verhüllt. Als er sich den Schweiß und das Blut von der Stirn wischte, löste sich dieses jedoch - und ich erkannte ihn. Jules. Lorainnes Vater. Sein Tod war eine Lüge gewesen, wen immer man gehängt hatte, es war nicht Jules gewesen. Ich grüßte ihn, erwies ihm die Ehre, doch er fuhr mir über den Mund und befahl mir, zu schweigen. Er wollte sich nicht zu erkennen geben. So ging dieser Tag also glücklich zu Ende, doch waren mehr Fragen als vorher aufgeworfen."
Vanion legte eine Pause ein und ließ den anderen Zeit, das Gehörte zu verarbeiten.
"Das Jahr in Savarics Händen.. es war.. es hatte Lorainne nicht unberührt gelassen."
Sanft lockerte er Lorainnes Griff um ihren Kelch, unauffällig genug, dass die anderen die Geste hoffentlich nicht bemerkten. Ihre Knöchel waren weiß vor Anspannung.
"Sie sprach nur noch drei Worte: 'Ja, ich will". Savaric hatte sie gebrochen, und die Mächte Szivars hatten ihre Seele aus ihrem Körper gesprengt. Und das ist etwas, wovon ich überhaupt nichts weiß. Fragt mich nicht nach Details, ich bitte euch. Mit Stella Silbersterns Hilfe, und auch mit der Hilfe Ysanders, eines Priesters begannen wir in Bourvis, wo Lorainne versteckt wurde, einen Zauber, der uns tief, tief in eine andere Welt schicken sollte: in die Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche von Lorainne de la Follye. An diesem Ort hofften wir, ihre Seele heilen zu können. Doch etwas ging schief: Schatten tauchten auf, taten uns weh, spielten mit uns, mit unseren Ängsten und Träumen. Ich.."
Vanions Stimme erstickte. Er wollte es erzählen, es wollte aus ihm heraus! Doch er hatte blanke Angst. Dass er Lorainnes Hand, die er immer noch festhielt, nun gradezu umklammerte, bemerkte er nicht. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Als ich vor wenigen Wochen dem Tode so nahe war, da hatte ich Panik! Jetzt weiß ich, warum! Er war dort gestorben. Der Schalk, diese schreckliche Kreatur, hatte ihn umgebracht, mit einem Wort: Tot! Du bist tot!, hatte er gekichert, und Vanion war gestorben. Und wiedererweckt worden. Eine Traumwelt, das war es gewesen - ein Traum, und Realität, und doch nur ein Traum.
Bilder stürmten auf ihn ein, Rania, Laura, Marie, Lorainne, Rugier, der an einem verwesenden Bein kaute, Anders, die über Vanions toten Körper gebeugt kniete und weinte, Yorik und Leonie.. HALT! Nur mit äußerster Mühe bekam er sich wieder in den Griff und verdrängte die Bilder aus diesen schrecklichen Tagen. Mit Erschrecken stellte er fest, dass er zitterte.
"Wir alle haben unsere innersten Ängste gespürt an diesem Ort. Und jeder von uns hat Lorainnes Ängste und Hoffnungen durchlebt. Es gelang uns, Lorainnes Seele zu heilen, und irgendwie schafften es die Magier" - Stella! Sie hat uns alle gerettet an diesem Tag! - "uns wieder zurück in die Wirklichkeit zu bringen. Lorainne lag in tiefem Schlaf, und wir konnten sie nicht wecken, aber die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, und ein Lächeln spielte auf ihren Lippen. Ein Lächeln, das bald wieder erlöschen sollte. Savarics Männer griffen uns an, sie hatten erfahren, wo wir waren. Jules kämpfte heldenhaft, wir alle taten das. Und dann - im härtesten Kampfgetümmel - eine weiße Gestalt, mit einem Schrei auf den Lippen und einem Schwert in der Hand, stürmte an mir vorbei. Lorainne! Lorainne war erwacht! Wir schlugen die Angreifer. Wir hatten gewonnen - und doch verloren. Jules lag auf den Tod verwundet am Boden."
Eine lange Stille erfüllte den Raum, niemand sprach. Schlussendlich wandte sich Vanion an Beorn:
"Magie ist mächtig. Ich glaube, mächtiger als das Schwert und der Bogen, doch auch ungleich gefährlicher für den, der sie wirkt. Und doch hat uns die Magie ermöglicht, Lorainnes Seele zu heilen. Wir haben Lorainnes Erinnerungen geteilt, nein - wir haben sie gelebt. Wir waren Lorainne in einem gewissen Sinne. Anders und ich kennen Lorainnes schlimmste und schönste Stunden." Es tat weh, dermaßen offen zu sprechen, doch Beorn sollte verstehen, was geschehen war. "Eine dieser Erinnerungen fand hier statt, in diesem Kloster. Lorainne saß an einem Tisch, und Marguerite stand hinter ihr, forderte sie auf, ihre Hochzeitsvorbereitungen ernster zu nehmen. Lorainne murmelte nur etwas von 'ja, gleich', und ihre Schwester verließ den Raum. Lorainne hatte herausgefunden, wer ich war. Oder vielmehr, wer mein Vater war: ein Bastard des alten Roqueforts. Sie fand ein Dokument, das irgendjemanden benachrichtigte, dass mein Vater nicht aufzufinden war. Ihm sollte mitgeteilt werden, dass er legitimiert worden war, aber mein Vater hatte zu diesem Zeitpunkt bereits meine Mutter kennengelernt, geheiratet, und war nach Tangara gezogen, in ein kleines Dorf namens Norodar. Diese Erinnerung haben viele erlebt. Ausgerechnet ich nicht.
Nun verstehst du vielleicht ein wenig besser, was mit "Zeugen" gemeint ist, Beorn. In gewissem Sinne wäre es nicht einmal eine Lüge, wenn einer von uns sagen würde, dass er die Beweise gesehen habe."