Noch vor dem ersten Sonnenstrahl hatte Vanion das Bett wieder verlassen. Irgendein Witzbold hatte Salz vor seiner Kammer verschüttet, und unter müdem Grummeln hatte er es aufgefegt. Nach einem kurzen Frühstück in der Küche führte ihn sein Weg als erstes zu den ebenfalls früh aufgestandenen Adiutores des Klosters. Die Novizen hatten bereits mit dem Tagewerk begonnen, und von ihnen hatte Vanion rasch erfahren, was er wissen wollte.
Im feuchten Tau des anbrechenden Tages kniete er vor Maries Grab. Sanfte Trauer erfüllte ihn. Er verspürte Bedauern und auch ein schlechtes Gewissen ob ihres Todes. Geliebt hatte er die Mutter seiner Tochter nicht, nein, doch war sie ein guter Mensch gewesen. Hübsch anzusehen, mit einer lebensfrohen und leichten Art. Die Zeit mit ihr war stets schön gewesen. Der Knappe hatte immer noch das Gefühl, ihr etwas zu schulden. Sie mochte tot sein; das Feuer, das auch das Leben Marguerites gefordert hatte, hatte auch das ihre genommen. Marie war das unschuldigste Opfer dieser Fehde. Ihr einziger Fehler war es gewesen, Vanion zu vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass sie bei ihm, bei Lorainne, in diesem Kloster in Sicherheit war.
Müde, unendlich müde, schüttelte Vanion diese Gedanken ab. Er war hier, um Maries Leben zu gedenken, nicht, um in Selbstmitleid und Zweifel zu baden. Was geschehen war, war geschehen, keine Macht abseits der Götter würde Marie ihr Leben zurückgeben können, egal wie sehr sie es verdient hatte.
Der Knappe vergaß die Zeit. Er versank in Erinnerungen an glücklichere Zeiten. Mochten die ersten Szenen, die ihm in den Sinn kamen, noch mit Marie zu tun haben, verblasste die schlanke Gestalt rasch und schuf Platz für andere Situationen mit anderen Beteiligten. All diese Erinnerungen, die soviel Gutes versprochen hatten - jede einzelne besaß mehr Wert als alles Leid, dass er erlitten hatte, zusammengenommen. Der Sieg vor Engonia, der Tod Konars. Simon, wie er Lorainne den Schlag gab, der nie gesühnt werden würde. Rania, wie er sie das erste Mal tanzen sah, vor fünf langen Jahren. Anders' Gesicht, als er in Lorainnes Traumwelt die Augen aufschlug, und ihre Tränen, die sein Wams benetzten. Nie hatte er sich so sehr darüber gefreut, überhaupt jemanden zu sehen. Trinken und Feiern mit Dylan, Ashgar und Linnea!
Mochten viele dieser Erinnerungen auch nie wiederkehren, mochten viele der Freunde aus vergangener Zeit nun tot sein, Vanion verspürte keinen Schmerz und keine Trauer. Damit hatte er abgeschlossen. Die Zeit, in der Lorainne gefangengehalten wurde, hatte ihm so vieles abverlangt. Er hatte gezweifelt, er hatte geweint, mit seinem Schicksal gehadert - und am Ende dieser Zeit war ein anderer Mann aus ihm geworden.
Noch nie war ihm so deutlich klar gewesen, was eigentlich aus dem verantwortungslosen Suffkopf, dem Tunichtgut und Tagelöhner geworden war. Das Kind, das den Hof seines Vaters verlassen hatte, um trotzig in die Welt zu ziehen und dort zu stehlen, saufen, prügeln und pöbeln, gab es nicht mehr. Seit langem nicht mehr. Vanion Bachlauf gab es nicht mehr. Mit der Schlacht um Engonia war der Tunichtgut gestorben, und in den Jahren danach hatte er lange gebraucht, um zu sich selbst zu finden. Aus Vanion Bachlauf war Vanion de Roquefort geworden.
Tief in seinen Gedanken versunken, nahm Vanion gar nicht wahr, dass Anders sich neben ihn gesetzt hatte. Doch wer genau hinschaute, konnte Vanions Augen leuchten sehen, und ein Lächeln spielte in seinen Mundwinkeln. Der Knappe wirkte zum ersten Mal seit sehr langer Zeit frei von allen Sorgen, und - glücklich.