Vanion fehlten die Worte. In letzter Zeit geschah ihm das öfter, so schien es. Mina war ihm durchaus lustig vorgekommen, doch dass sie bereits so etwas erlebt hatte, verschlug ihm die Sprache. Langsam folgte er ihrem Blick auf ihre zitternden, kalten Hände. Es schien, als sei eine Wolke vor die Sonne gezogen, dabei strahlte sie hell und fröhlich vom Himmel und wärmte sie! Vanion nahm das als gutes Zeichen.
"Schau mal in den Himmel, Mina. Das Auge Alamars leuchtet über uns. Die Schrecken der Vergangenheit liegen hinter uns, und sie können uns nicht einholen. Die Götter haben für jeden von uns ein Schicksal vorgesehen. Doch vergisst man schnell, dass es nicht nur gute Götter gibt auf der Welt. Es gibt auch böse. Und so sehr einige Menschen versuchen, dem Bösen auszuweichen, so sehr andere Menschen versuchen, dem Bösen mit Gutem zu begegnen - irgendwo überwiegt das Böse.
Und doch bist du hier. Wenn die Götter gewollt hätten, dass du das Schicksal deines Vaters und deines Verlobten teiltst, dann hätten sie doch gewiss die Kuh nicht kalben lassen. Aus dem größten Übel kann etwas Gutes erwachsen, da glaube ich fest dran! In verbrannter und gesalzener Erde kann der kleinste Samen überleben, und dereinst erwächst aus ihm die schönste Blume. Vielleicht bist du eine solche Blume. Was immer dein Schicksal ist, es war nicht, dort zu sterben. Das mag ein schwacher Trost sein angesichts deines Verlustes, aber wenn du anfängst, in der Vergangenheit zu leben, vergisst du die Gegenwart." Wie Lorainne es lange getan hat - und manchmal immer noch tut. Das geschieht, wenn die Schmerzen und der Verlust größer sind, als man es sich mit gesundem Geiste vorstellen kann.
"Ich hab im Pilgerzug Knaben gesehen, die mit einem Knüppel in der Hand versuchten, Söldner Konars davon abzuhalten, ihrer Familie weh zu tun. Dieselben Knaben waren ein paar Jahre später die erbittertsten, tapfersten Kämpfer, die der Pilgerzug zu bieten hatte. Wachse an deiner Vergangenheit! Schließ dich nicht mit ihr ein."
Was für eine Ironie. Vanion hatte seine eigenen Dämonen, mit denen er oft kämpfte, und er schloss sie stets irgendwo in eine kleine Kammer seines Hinterkopfes ein. Den Kampf mit diesen Dämonen hatte er nie begonnen, und er würde es auch nicht tun, bevor Savaric tot war. Es gab eine Zeit für Selbstreflektion, für das Aufarbeiten der Vergangenheit, doch es war definitiv nicht diese Zeit. Dieser Sommer würde die Ruhe vor dem Sturm sein. Eine trügerische Ruhe, sollte doch das Aufziehen des Sturms durch Benjens und Vanions Taten geschehen. Savarics Männer würden von Ort zu Ort hetzen müssen, und Vanion und Benjen würden schneller sein müssen. So ruhig wird's gar nicht mal sein, dachte der Knappe mit einem inneren schiefen Lächeln.
"Was immer aus dir wird, eine Schankmaid wirst du nicht lange bleiben, glaube ich. Wer einmal den Geschmack der Welt gekostet hat und einmal in den zweifelhaften Genuss ihrer Sorgen und Nöte gekommen ist, der gehört nicht mehr zum einfachen Volk. Wo immer dein Platz ist - vielleicht ist er bei uns, in La Follye oder in Roquefort, vielleicht ist er auch ganz woanders - du wirst ihn finden."