Einige Meilen vor Voranenburg kreuzten sich zwei der größten Straßen dieser Gegend hier. Es war nur natürlich, dass an dieser Kreuzung irgendwann ein Gasthaus errichtet worden war, um Reisende unterzubringen. Mit der Zeit war dieses Gasthaus um einige Gebäude gewachsen, bis man fast schon von einem kleinen Gehöft sprechen konnte. Drei solide, zweistöckige Gebäude bildeten ein zur Kreuzung hin offenes 'U', und der ermüdete Reisende konnte direkt von der Straße aus über einen fest gepflasterten Weg in den Innenhof gelangen.
Dort waren auch Vanion und Damian angelangt und hatten sich entschieden, Rast zu machen. Die Reise war beschwerlich gewesen, vor allem zu dieser Jahreszeit. Nun saß der ehemalige Knappe in seiner Kammer und begutachtete seine Bardike. Sie war erneut voller Kerben, das Holz an mehreren Stellen gesplittert.
Es mag an der Zeit sein, die Waffe zu wechseln. Traurig begutachtete Vanion die schwere Axt näher. Eine der Nieten, die den Axtkopf mit dem Holzstab sicherte, war locker. Die Schneide, so oft geschliffen, wirkte abgenutzt und stumpf. Das Holz des Stiels war trocken und spröde. So viele Kämpfe hatte er gefochten. Jahrelang war die Bardike eine verlässliche, gute Waffe gewesen, zwar aus Holz, aber doch stabil.
Aber am Ende war diese Bardike das Handwerkszeug eines Knechts, keines - ja, was war er nun eigentlich? Kein Ritter. Aber bemüht, ritterlich zu handeln. Kein Söldner. Und doch in der Begleitung eines Höhergestellten. Kein Bauer. Und doch - nein, definitiv kein Bauer. Was war von Vanion übrig geblieben, nachdem er die Ritterwürde aufgegeben hatte? Nachdem er seine Geburt aufgegeben hatte?
Sein altes Leben als Knappe war beendet. Das Leben davor, das Bauernleben, ebenfalls. Beide Lektionen waren auf ihre Art hart gewesen, aber beide Lektionen hatte er verstanden. Nun galt es also, seinen Platz in der Welt zu finden. Damian würde ihm helfen, Entscheidungen zu treffen. Herauszufinden, was richtig, was falsch war.
Nüchtern stellte Vanion fest, dass seine idealistischen Auffassungen der Rittertugenden nach wie vor seinen moralischen Kompass bildeten. Er hatte es sich einfach machen wollen: mochte er auch kein Ritter werden, so würde er doch die Tugenden befolgen und damit zumindest im Inneren ritterlich sein. Die anderen Ritter, so hatte er gedacht, die Ritter durch Geburt, die ihre Lehnseide schworen, die waren keine wahren Ritter. Doch dann war er Yezariel wieder begegnet.
'Ich habe meine weltlichen Besitztümer, meine Titel, aufgegeben, Vanion! Um das wahre Rittertum zu erreichen!'
Vorwurfsvoll hatte Yezariel diese Worte gesprochen. Und doch hatte er Vanion, der ihn enttäuscht hatte, die Chance gegeben, sich einem Kampf zu stellen, seine Rechtschaffenheit zu beweisen. Yezariel hatte ihm eine zweite Chance gegeben. Dagegen stand das Wort der Dame von Goldbach. Isabeau würde mich hängen, sollte ich auch nur einen Fuß nach Goldbach hinein setzen.
So viele Hoffnungen waren enttäuscht, so viele Hoffnungen waren erfüllt worden. Vanion hatte an Vielem seinen Anteil gehabt, im Guten wie im Schlechten. Damians Absolution und der ehrenhafte Kampf, den Vanion im Winter ausgefochten hatte, hatten seinen inneren Frieden wiederhergestellt. Einzig die Tatsache, dass er seinen Onkel umgebracht hatte, machte ihm zu schaffen. Seit Monaten hatte er kein Wort mehr an Lavinia gerichtet, aus Angst und Scham. Sein Glaube hatte ihm stets geholfen, schwere Zeiten zu überstehen, doch würde Lavinia ihn wohl kaum loben für das, was in den letzten Monaten geschehen war. Und so schwieg er, sprach nicht zu ihr.
Ein Ruf riss den ehemaligen Knappen aus seinen Gedanken. "Es ist angerichtet!" Ein Lächeln glitt über seine Lippen, und rasch stand er auf und ging nach unten, in den Speiseraum. Neugierig schaute er sich um, ob Damian schon dort war.