14. Tag des 10. Mondest 257 n.J.
Tannjew saß im Zimmer Renwyks, des alten Oberkommandanten der andarranischen Reichsgarde und grübelte. Der gestrige Abend hatte gezeigt, dass viele seine Entscheidung für die Tat eines Wahnsinnigen hielten, der das eine Übel gegen das andere getauscht hatte. Er wusste es jedoch besser. Wie konnte sich ein Sterblicher gegen das Schicksal auflehnen? Die Karten der Zigeunerin hatten es ihm vor drei Mondläufen gesagt: Such dir Verbündete, sicher dir die Gunst deiner Göttin, stell dich deinem Bruder entgegen! Das hatte er getan. Er betrachtete noch einmal den Brief, den er dem Großherzog von Valkenstein geschrieben hatte.
Hochverehrter Großherzog von Valkenstein,
Euer Majestät,
ich sende Euch dieses Schreiben in dunklen Zeiten. Wie Euer Majestät bereits weiß, hat der Usurpator Barad Konar den Thron unseres geliebten Kaiserreichs Engonien, Eurer südlichen Nachbarn, auf infame Weise an sich gerissen! Doch nicht nur diese Tat scheint ihn in seiner Machtgier befriedigt zu haben, hat er doch auch verlangt, dass Ihr, Euer Majestät, Euch ihm unterwerfen sollet! Eine Beleidigung Eurer Stellung und Eures stolzen Reiches, wie sie in der Geschichte Engoniens noch nicht vorgekommen sein mag! –
Daher, und mit dem einzigen Zweck, das Kaiserreich wieder in dem Glanze erstrahlen zu lassen, den es einst besaß, möchte ich Seine Majestät ersuchen, in Treue und Verbundenheit zu einer gemeinsamen Sache, meine folgende Bitte zu bedenken:
Ich, Tannjew von Norngard zu Wiesenquell, verfüge hiermit die Loslösung der Provinz Andarra aus dem Reichsverbund des Engonischen Kaiserreichs, bis die legitime Autorität des einzig wahren Kaisers Jeldrik und des Engonischen Senats wiederhergestellt sind!
Ferner, soll die Provinz Andarra solange als nötig souverän verbleiben, wie der Krieg in den Grenzen Engoniens andauert, auf dass das ohnehin schon zu viel Blut und Leben gegebene Volk wieder den Frieden findet, den es so schmerzlich zu missen hat!
Aus diesem und keinem anderen Grunde, übernehme ich, Tannjew von Norngard zu Wiesenquell die schwere Bürde, Träger dieser Göttergegebenen Verantwortung zu sein, mein Volk vor allem Unbill zu schützen und Recht und Gesetz in den Grenzen Andarras wiederherzustellen!
Doch wie Euer Majestät gewiss selbst erkennen, wird die Restitution von Recht und Gesetz im Lande Andarras, wie auch in den Grenzen des Kaiserreich Engoniens, eine schwierige Aufgabe werden, denn ein Feind steht uns entgegen, dessen plündernde und brandschatzende Armeen nicht ohne weiteres zurückweichen werden.
Daher ersuche ich, Tannjew von Norngard zu Wiesenquell, Kraft der mir durch die Götter und meinen Eid gegenüber dem einzig wahren Kaiser Jeldrik gegebenen Autorität Euer Majestät um umgehende Intervention in den Krieg um Andarra!
Ferner bitte ich um die Gunst, die Provinz Andarra fortan, bis zum Ende des Krieges, unter die Protektion des ehrwürdigen Großherzogtums Valkenstein zu stellen, auf daß wir gemeinsam gegen den Feind stehen mögen, der unser aller Leben und das unserer Frauen und Kindern bedroht.
In Erwartung Eurer Majestäts baldigen Antwort verbleibe ich in stetiger Hoffnung,
Herr Tannjew von Norngard zu Wiesenquell
Valkensteins Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Tannjew rückte den Kerzenständer näher, um den Brief des Großherzogs besser lesen zu können.
Geschätzter Sir Tannjew,
Herr von Norngard zu Wiesenquell und Ritter seiner Majestät Kaiser Jeldriks,
mit Bedauern haben Wir euer Sendschreiben studieren müssen. Lange haben Wir Uns mit Unseren Beratern zurückgezogen, um in dieser entscheidenden Phase des schändlichen Krieges, der das Land Unserer Vorfahren heimsucht, zu entscheiden.
Wisset, daß Unsere Entscheidung schweren Herzens getroffen wurde, denn genau wie ihr, haben auch Wir uns um ein Volk zu sorgen, wenngleich es dem Unsrigen an Kampfeswillen kaum fehlen mag, so sagt denn eine alte Weisheit hier droben im Norden, daß ein jedes Kind eine Waffe führen können muss, noch ehe es Lesen und Schreiben lernen mag.
Doch genug davon! So höret nun, Sir Tannjew, Unsere Großherzogliche Entscheidung:
Im Namen Tormentors und der Götter des Nordens! Kraft der Uns, Großherzog Theodor II. von Valkenstein, durch Unsere Ahnen gegebenen Vollmachten und in Übereinstimmung mit den heiligen Gesetzen des Codex Iuris, sei hiermit verkündet, daß die Provinz Andarra, samt und sonders, von diesem Tage an, dem 01. Tag des 10. Mondes 257. n.J., unter den hoheitlichen Schutz des Großherzogtums Valkenstein gestellt wird!
Jeder Angriff auf das Gebiet, welches vormals als Provinz Andarra bekannt war und das von diesem Tage an die Bezeichnung Protektorat Andarra tragen solle, wird als ein Angriff auf die Souveränität des Großherzogtums höchstselbst gewertet und mit allen seiner Majestät zur Verfügung stehenden Mitteln aufs Schärfste vergolten werden!
Die Truppen des Ordens des Lupus Umbra, ebenso die rekrutierten Gardeeinheiten, welche weiterhin wünschen Barad Konar die Treue zu halten, sind hiermit angehalten die Grenzen des Protektorats Andarra binnen einer Woche zu verlassen! Einen Zuwiderhandlung gegen diesen ausdrücklichen Befehl Unserer Majestät, wird als kriegerischer Akt angesehen und entsprechend gewürdigt werden!
Zudem setzen Wir, Theodor II. von Valkenstein, Kraft Unserer Majestäts Vollmachten, den ehrenwerten Ritter Jeldriks, Sir Tannjew von Norngard zu Wiesenquell, mit sofortiger Wirkung als Unseren Vertreter in den Grenzen des Protektorats Andarra ein! Fortan soll dieser, gemäß den Gesetzen Unserer verehrten Vorfahren, den Titel des Wojwoden tragen, des Lordprotektors von Andarra, mit allen Rechte und Pflichten, die dieses ehrenvolle Amt mit sich bringt!
Wisset, daß Tannjew von Norngard zu Wiesenquell, somit ab sofort und bis dieser Krieg vorüber sein mag oder Wir ihn aus Unseren Diensten entlassen, Unser wachendes Auge, Unsere gerechte Faust und ebenso Unsere Stimme im Lande Andarras sein möge!
Viele mögen sich fragen, was Uns dazu bewogen haben mag, diesen schweren und steinigen Pfad zu begehen?! Doch steht für Uns im Vordergrund, daß Wir es als Unsere Pflicht ansehen, Unseren Brüdern und Schwestern, jenseits der südlichen Grenze Valkensteins zu Hilfe zu eilen, ob der alten Bündnisse und Eide, die Uns dazu verpflichten!
Auch können Wir es nicht zulassen, daß die Barbarei eines unrechtmäßigen Kaisers und seiner mordgierigen Räuberbande, die er eine Armee zu nennen wagt, ungestraft bleibt!
Viel zu lange schon wird das leidende Volk in den Mühlen des Krieges zerrieben!
Viel zu lange schon vergeht das Land im Feuer des Kampfes!
Viel zu lange schon haben Wir geschwiegen und zugeschaut!
Es herrscht Krieg! Und Valkenstein hat seine Seite gewählt!
In Erwartung eurer Antwort verbleiben Wir in Freundschaft,
Theodor II.
Großherzog von Valkenstein,
Stadthalter von Weißenthurm
und hoher Protektor der Reichsgarde
Der erste Schritt war getan. Nicht nur das. In diesem Augenblick waren auch Soldaten aus Lodrien auf dem Weg, um seinen Kampf gegen Alaron und den Lupus Umbra zu unterstützen. Einzig das plötzliche Verschwinden der Dragoons warf Fragen auf. Dies musste beobachtet werden.
Tannjew legte den Brief weg und griff nach dem Amulett um seinem Hals. Nun war klar, weshalb Mika das gleiche Amulett besaß. Ihr unerwartetes Erscheinen, die verblüffende Enthüllung, das waren Zeichen des Schicksals, Zeichen der Götter, Zeichen, die sich verdichteten, denn weitere Novizinnen Nedras folgten ihr. Die Karten hatten davon gesprochen, dass er sich göttlicher Hilfe versichern sollte. Es stand nun außer Frage, dass damit Nedra gemeint war.
Er stand auf und ging zum schmalen Fenster, dass eher eine Schießscharte glich. Hinter den Mauern der Stadt brannten abertausende Lagerfeuer, von den Flüchtlingen entzündet, um die Kälte zu vertreiben und ein karges Mahl zu erwärmen. Die Alten, Schwachen, Frauen und Kinder würden zu den Turalbergen gebracht. Die kampffähigen Männer würden bleiben müssen. Und starben. Das hatten die Karten der Zigeunerin am gestrigen Abend gezeigt. Das war der Preis der Freiheit.