Wie in Windeseile hatte sich die Nachricht in der Stadt herumgesprochen und mit Einbruch der Dämmerung strömten die Menschen auf den Platz, an dem die Segnung stattfinden sollte. Es waren in der Mehrheit Andarranische Flüchtlinge und Veteranen, die ihre Waffen angelegt hatten und nun teilhaben wollten an der Segnung durch Tior und Naduria, voller Zuversicht, dass ihnen dies den Sieg bringen würde.
An der Nordseite des Platzes war eine hölzerne Plattform aufgebaut worden, vor der ein Scheiterhaufen aufgeschichtet worden war. Vor der Plattform standen abwechselnd Akolythen des Tiorstempels und Novizen des Naduriatempels im Halbkreis, so dass die Menge Abstand hielt.
Der Mond ging über einer schier unübersehbaren Menschenmenge auf und spiegelte sich in Äxten, Speeren, Schwerten und Dolchen. Es lag eine seltsame Stimmung in der Luft und die Menge war ruhig, in einer erwartungsvollen Stille gefangen. Es waren keine Kinder zu sehen und nur wenige Frauen, denn die Andarraner wussten es besser, als bescheidene Gebete zu erwarten, wenn Tior und Naduria von zwei der mächtigsten Priesterinnen angerufen wurden.
Ein Fackelzug erschien im Süden und die Menge teilte sich wie die Wellen vor einem Schiffsbug. Etwas wie ein Seufzen durchfuhr sie, als Kassandra Wolfsgeheul den Platz betrat. Die Rüstung war verschwunden, sie trug ein Gewand in tiefstem blutrot und ihre Axt, die wie ein Kind in ihrem rechten Arm lag. Rechts und links von ihr schritten zwei Wölfe, deren gelbe Augen wie unheimliche Lichter wirkten. Sie wichen ihr nicht von der Seite, blieb sie stehen, taten sie es auch.
Die Novizen und Priester, die sie umringten, geleiteten sie zur Plattform und einige wenige erklommen mit ihr die Stufen. Sie stand unmittelbar vor dem Scheiterhaufen und wandte sich der Menge zu. Sie erhob die Arme zum Segen und die Ärmel glitten zurück, um schwere, goldene Spiralen zu enthüllen, die sich um ihre Unterarmen wanden. Der Scheiterhaufen entflammte lodernd und es schien, als ob seine Flammen nach ihren Armen lecken würden.
Als sie sprach, da hallte es durch alle Gassen und Straßen, fegte wie ein eisiger Wind über die Plätze der Stadt:
"HÖRE TIOR! SIEH HERAB AUF DIESE STADT, DIE SICH DIR ZU EHREN VERSAMMELT HAT! DIESE KRIEGER SAMMELN SICH ZUR SCHLACHT IN DEINEM NAMEN, BEREIT MIT DEINEM NAMEN AUF DEN LIPPEN ZU STERBEN! ZEIG UNS DEINE KRAFT, ERFÜLLE UNS MIT DEINEM ZORN, MACH UNS ZUM GEFÄß DEINES WILLENS! ICH, KASSANDRA WOLFSGEHEUL, TOCHTER IN DEINEM NAMEN, ERFLEHE DEINE GUNST FÜR DIESE STADT! SIEH!"
Mit einem kräftigen ruck zerriß die Priesterin das Gewand über ihrem Herzen und griff nach einem schmalen Dolch, der ihr von einem knienden Priester gereicht wurde.
"ICH BRINGE DIR ALS OPFER DAS BLUT MEINES HERZENS, DU QUELLE MEINES SEINS UND GRUND MEINES DASEINS! ICH ERFLEHE DEINE KRAFT FÜR DIESES RUDEL, DEINEN SEGEN FÜR DIESE STADT. BRING DEINE WUT IN JEDE KLINGE DIE SICH HIER VERSAMMELT HAT UM SIE GEGEN DEN LUPUS UMBRA ZU FÜHREN! DIES SOLL DER AUGENBLICK DER KRAFT SEIN, DER UNS KRIEGER DURCH DIE SCHLACHT TRAGEN WIRD, DIES IST DER AUGENBLICK, DER UNS DEN GRUND UNSERES LEBENS ZEIGT: WIR SIND KRIEGER DEINES NAMENS, WIR SIND BLUT, KAMPF UND EHRE!"
Die Menge war wie gebannt und die Spannung auf dem Platz stieg ins Unermessliche. Die Priesterin hob den Dolch in beiden Händen und stach seine Spitze in das Fleisch über ihrem Herzen. Blut troff herab und wurde von den Flammen gierig verschlungen. Sie färbten sich blutig und schossen empor, als ob sie die Frau umhüllen würden. Die Priester und Novizen Tiors fielen auf die Knie und beugten das Haupt vor der Anwesenheit ihres Gottes. Sogar die Priesterinnen Nadurias neigten respektvoll das Haupt.
Ein eiskalter Wind fegte über den Platz und sogar die hartgesottenen Krieger erschauerten, als die beiden Wölfe den Kopf in den Nacken legten und ihr Heulen gen Himmel schickten.
Kassandra streckte die Arme gen Himmel und ihr Herzblut ran vom Dolch an ihren Armen herab.
"HÖRE TIOR, STÄRKE MEINES ARMS, SCHÄRFE MEINER WAFFE, QUELL MEINES ZORNS! WIR GELOBEN DIR BLUT! KAMPF! UND EHRE!"
Die Menge erschauerte und beugte sich vor der Wut, die in ihren Herzen aufloderte. Die Anwesenheit des blutigen, wolfsgesichtigen Gottes war unzweifelhaft.