Jelena war müde. Zu müde zum essen, zu müde zum trinken. Zu müde zum schlafen. Sie wusste nicht mehr ob Tag oder Nacht war, wusste nicht mehr wieviele Stunden sie bereits auf den Beinen war. Sie ertappte sich dabei, wie sie bereits seit unbestimmter Zeit in die Leere stierte, ohne dass sie sich dessen bewusst war.
Bei jedem Verwundeten, der hereingetragen worden war, hatte sie nervös ins Gesicht geblickt, ständig in der Angst jemand bekanntes und geliebtes zu sehen. Sie war in einen der Räume gegangen, als ein Toter in einem weißen Wappenrock zugedeckt werden sollte. Ihr war fast das Herz stehen geblieben, sie war panisch zu dem Tisch gelaufen und hatte das Leichentuch zurückgezogen, nur um jemand völlig fremdes zu sehen.
Vor Erleichterung standen ihr die Tränen in den Augen, sie war längst jenseits von Schuldgefühlen oder fruchtlosem Bedauern ob dieser Gefühle.
Der Strom der Verwundeten war abgeebbt, es war so etwas wie Ruhe eingekehrt. Jelena machte sich keine Illusionen, auch wenn sie hier in Fanada unter völlig anderen Umständen als in Caer Conway agierte, so war die Arbeit noch lange nicht getan. Sie würden noch einmal ein Drittel der bereits Versorgten verlieren, wenn Wundfieber und Schwäche um sich griff. Der Kampf auf den Schlachtfeldern mochte zum erliegen gekommen sein, aber der Kampf in den Lazaretten würde noch Tage, wenn nicht gar Wochen andauern.
Sie schauderte, als eine knochentiefe Kälte sich in ihr breit machte.
Noch eine Sache.
Sie musste noch eine Sache tun, dann konnte sie schlafen.
Sie stand auf und ging auf das Hauptportal des Tempels zu. Als sie draußen auf den Stufen stand, blinzelte sie erstaunt in die untergehende Sonne, bevor sie sich auf den Weg machte.
Sie merkte all die ehrfürchtigen Blicke nicht, die ihr hinterhergeworfen wurden und machte sich auch keine Gedanken darüber, wie sie aussah: von oben bis unten mit fremden Blut besudelt, die Augen rot und von den Essigdämpfen entzündet, von dunklen Ringen geziert.
Sie blieb vor ihrem Ziel stehen und betrachtete den Tempel Tiors eine Weile lang, so als würde sie mit sich selbst debatieren, ob sie ihn wirklich betreten solle.
Ihr Heilerohr hörte das Stöhnen der Verwundeten und sie betrat die Haupthalle.
Vor ihr bereitete sich ein Bild des Grauens.
Die Geweihten des wolfsgesichtigen Gottes waren in ihren Tempel zurückgekehrt und hatten keines der Lazarette aufgesucht. Tiors sogenannter neuer Weg mochte vieles sein, aber auch er hatte offenbar keine Verwendung für Heiler.
Jelena trat zum nächsten Verwundeten und begann stumm ihn zu versorgen. Die Verbände in ihrer Tasche würden bei weitem nicht reichen, aber bald schon stand ein ebenso stummer Novize neben ihr und reichte ihr Wasser und halbwegs sauberes Tuch. Jelena warf ihm einen Blick zu, ihr war, als hätte sie ihn in Alberts Begleitung gesehen, aber das war jetzt unwichtig.
Sie ging von Verwundetem zu Verwundetem und versorgte einen nach dem andern. Sie kam zu einer Frau, die nur Kassandra Wolfsgeheul sein konnte. Man hatte sie auf den Steintisch vor dem Bildnis Tiors gelegt, offenbar steckte ein Bolzen ihr ihrer Schulter. Jelena legte dem Geweihten, der sich über sie beugte die Hand auf die Schulter und er trat einen Schritt zur Seite.
Die Heilerin war inzwischen zu müde um sich über sowas zu wundern. Sie wies mit dem Kinn auf die Priesterin und jemand hielt sie fest, so dass sie den Bolzen mit ihrem Skalpell herausschneiden konnte, ohne dass sie die großen Blutgefäße des Armes beschädigte.
Als ihre Wunde versorgt war, spürte sie eine Hand auf ihrem Arm. Sie blickte auf und sah den Novizen vor sich stehen. Er führte sie in eine Ecke, in der sie Albert auf dem Boden liegend vorfand. Offenbar war der Knochen in seinem linken Arm durch einen Hieb zersplittert.
Die Heilerin seufzte und rieb sich müde die Augen. Sie wusste nicht, ob sie noch genug Kraft und Konzentration in sich hatte um das versorgen zu können.
Vorsichtig lagerte sie den Arm und schnitt den Muskel bis zum Knochen. Sie zog die Splitter, derer sie habhaft werden konnte aus der Wunde und fügte den Knochen zusammen, um ihm Stabilität zu geben.
Albert war dankenswerterweise die ganze Zeit ohnmächtig.
Jelena nahm eine Sehne und band damit die Splitter aneinander, bevor sie die Muskeln wieder über dem Knochen zusammenfügte. Sie suchte eine Weile in ihrer Tasche, fand aber noch ein Fläschchen mit rotem Inhalt, welches sie Albert nun tropfenweise einflöste.
Als sie sicher war, dass der Trank seine Wirkung tat und sah, dass der Geweihte wieder zu sich kam, zog sie sich an der nächsten Wand hoch und hielt sich eine Weile daran fest, bis das Drehen in ihrem Kopf aufhörte.
Sie trat einen Schritt von der Wand weg und wandte sich zum großen Tiorsbildnis.
Es dauerte eine lange Zeit, bis sich genug Feuchtigkeit in ihrem staubtrockenen Mund gesammelt hatte.
Als es soweit war, spuckte sie vor Tior aus und wandte sich ab, um den Tempel zu verlassen.