"Das klingt nach einer Geschichte, die es würdig ist, aus dem Munde von Helden erzählt zu werden. Vielleicht werde ich dereinst dafür sorgen, entsprechende Maulhelden und Scheinriesen kenne ich zur Genüge, die dieser Geschichte den würdigen Biss und Witz zu verleihen wüssten. Auch ich selbst bin dieser Kunst natürlich nicht ganz fern geblieben - aber wir wollen ja nicht abschweifen."
Vanion nahm den von Jacques aufgefüllten Krug in die Hand und schwenkte ihn ein wenig, während er nachdenklich in den dunklen roten Wein sah.
Unberührt stellte er ihn wieder hin. Man merkte am Ton des Knappen, dass die Erzählung langsam persönlicher wurde.
"Nach diesem Abend wollte Marius fort vom Pilgerzug."
Vanion legte sich wieder flach hin und sah gedankenverloren an die Decke. Leise sprach er:
"Er hatte genug. Die Ereignisse um die Reichsgarde in Ahrnburg, das unrühmliche und mörderische Verhalten des McKilkennys in Brega, die bevorstehende Heirat mit Rania, und das bevorstehende große Finale des Pilgerzuges vor den Toren Engonias, das alles schien zuviel für ihn zu werden. Seine Stimme war seit Wochen kaum noch in frohem Gesang zu vernehmen gewesen, er ließ sich einen Bart wachsen, den er nicht pflegte - und eitel, wie er war, war sein haarloses Gesicht für ihn immer sehr wichtig -, und mit jedem Mann, den er am Leben hielt, und vielmehr mit jedem, den er verlor, verschloss sich sein Gesicht.
Ja, er hatte genug. Er wollte fort, wohin, war ihm da noch egal. Ich beschwor ihn, zu bleiben, an die gerechte Sache zu glauben, auf die Götter zu vertrauen - und tatsächlich gelang es mir, ihn zurück zu halten. Er war derjenige gewesen, der mir von Lavinia erzählte, er war derjenige gewesen, der mir die rechten Ideale beibrachte. Und ihn sah ich nun wanken, er drohte zu zerbrechen schien es mir. Aber hätte ich gewusst, was ihn wirklich umtrieb, dann... ich weiß es nicht.
Wie auch immer. Hinter meinem Rücken begann Marius, Kontakte zu diesen Seefahrern zu pflegen. Er reiste nach Aldradach, einer Stadt auf der Festinsel der Drachen, und man erzählte mir, dass er dort sieben lange Tage und sieben noch längere Nächte pausenlos durchgesoffen hätte, ohne einen Gedanken an Lavinia zu verschwenden. Als er von dort zurückkehrte, erzählte er mir mit glühenden Blicken von Schiffen und Segeln, von Wind, Sturm und Pulverdampf.
'Vanion', sprach er zu mir, 'du bist ein guter und fähiger und aufrechter Mann. Aber das alles hier, der Krieg, die Männer, die Leute, und nicht zuletzt Lavinia selbst, fordert von uns, unsere Freiheit aufzugeben. Sie will mich hineindrängen in diesem Krieg, einfangen in dieser Heirat, auf ewig gefangenhalten in diesem Glauben! Du und ich, wir sind einfache Männer, die ihr Glück immer selbst in die Hand genommen haben. Und jetzt müssen wir das wieder tun, denn die Götter würfeln nur mit uns! Wir müssen unsere Würfel selbst werfen, und sie auch fangen! Solange die Götter hier und die Generäle dort uns endlich sterben lassen in diesem unseligen und falschen Krieg, solange sind wir nicht frei! Und wir wollen doch frei sein, nicht wahr? Wir wollen frei sein, das zu tun, was immer wir wollen, frei, Geld, Wohlstand und ein langes Leben zu erreichen! Und wenn's das für dich nicht ist, dann heuer an! Ich werde hier verschwinden, aber auftauchen werde ich auch! Und zwar auf den Weltmeeren, mit einem eigenen Schiff, einer eigenen Mannschaft!'
Ich erinnere mich an diese Worte, als hätte man sie mir eingebrannt. Da stand dieser Mann, dieses Männlein, und wollte davon laufen. Weit weg wollte er, lieber wollte er baden gehen im Meer als für den Widerstand weiter sein Leben zu wagen! Und das, nachdem er mir eingetrichtert hatte, dass man sein Leben nicht ohne Sinn verbringen solle, dass man für etwas kämpfen solle, wenn es irgend menschenmöglich ist! Dass man zeigen solle, wer man ist, und was man kann, und dass das kleinste Zünglein an der Waage Alamars ausschlaggebend sein kann!
Ich fragte ihn, ob er vergessen habe, warum wir all dies Elend mitmachen. Warum Freunde sterben, warum wir Feinde töten. Er sagte nur: 'Das hier ist nicht länger mein Krieg. Sollen die feinen Herren ihn gewinnen oder verlieren, auch wenn ich mir um unserer Freunde und Freundschaft willen erhoffe, dass Konar stirbt. Das hier ist nicht mein Krieg.'"
Jetzt griff Vanion beherzt nach dem Weinkrug. "Ihr müsst wissen, mademoiselle, dass das im Winter nach dem Tod der Sturmrufer war." Er trank aus.
"Die Geschichte endet hier, den Rest kennt Ihr. Marius verließ den Pilgerzug und entsagte Lavinia. Er entehrte Rania, indem er die Verlobung löste und sie zurückschickte zu ihrem Vater. Sein Schiff, die 'Freedom Alone', läuft nur selten in Engonien an. Sie kreuzt in den Gewässern im Süden und im Osten, immer auf der Suche nach anderen Schiffen. Piraterie ist seine neue Göttin, Huren, Weiber und Alkohol sein täglicher Altar, Pulverdampf sein Weihrauch und der blanke Säbel sein Gebet. Lug und Trug sind seine neuen Freunde, und Feind ist ihm jeder, der schwächer ist als er und seine Mannschaft."