Voller Respekt verbeugte sich Vanion.
"Gewiss. Ich möchte Euch die Geschichte erzählen, wie sie geschehen ist."
Sein Blick senkte sich, und seine Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit. Die Worte kamen wie von selbst über seine Lippen. Er erzählte von den Wochen und Monaten im Forêt d'Artroux. Erzählte, dass Lorainne von seiner Abkunft erfahren hatte, wohl hier, in diesem Kloster. Der Konflikt, in den ihn sein Blut stürzte: den Onkel töten, oder den Eid brechen. Seine Erzählung war nüchtern, sachlich, und er bemühte sich, die Geschichte zu erzählen, ohne Dinge zu erwähnen, die besser unerwähnt blieben - wie der Tod Alains. Viel sprach er, und machte nur wenig Pausen, um der Mutter Oberin Gelegenheit zu geben, etwas zu trinken.
Als er an den Abend gelangte, an dem er Lorainne verlassen hatte, stockte er.
"An diesem Abend saß ich alleine in diesem Gasthaus, in dem wir waren. Es war tief in der Nacht, und der Schlaf hatte sich nicht einstellen wollen. Monatelang hatte ich mit mir gehadert, und ich wusste, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Ich hatte, wann immer es möglich war, zu Lavinia gebetet und sie um Rat und Führung angefleht. Aber sie blieb stumm, sprach nicht zu mir. Und so entschied ich mich endlich, und ich dachte, meine Entscheidung wäre laviniagefällig und wohl getan. Ich opferte alles, was ich erreicht hatte, um nicht gegen die Mutter zu sündigen."
Jetzt griff er selbst zu dem Kelch, der für ihn gebracht worden war, und befeuchtete seine trockene Kehle.
"Nun, so dachte ich jedenfalls. Mit jedem Tag und jeder Woche, die verstrich, fürchtete ich mehr um das Leben meiner Freunde. Ich warf mir vor, falsch gehandelt zu haben, stellte meine Entscheidung in Frage. Ich war zurück nach Tangara gereist, und hatte vorgehabt, dort mein Leben weiter zu leben. Aber so einfach war es nicht. Und am Ende stieg ich erneut auf mein Pferd und brach auf, in den Norden. Dort hörte ich von der Hochzeit zwischen Lorainne und Savaric, und dass sie gleich am nächsten Tag stattfinden solle. Also trieb ich mein Pferd an, und ohne Rast ritt ich nach La Follye. Das Tor war unbewacht, und ich kam noch rechtzeitig, um das Duell der beiden zu bezeugen. Um den Verrat meines Onkels zu bezeugen. Lorainne gewann den Kampf, doch anstatt ihn zu erschlagen, bot sie ihm die Hand zur Freundschaft. Und er - er lachte, packte Lorainne und hielt ihr ein verborgenes Messer an den Hals. In dem Tumult, der dann ausbrach, war ich der erste, der zu den beiden gelangte. Savarics Messer steckte in Lorainne, und ich packte es und stieß es ihm in den Hals."
Das Schweigen, das nun im Raum stand, war brutal. Unsicher versuchte Vanion, dem regungslosen Gesicht der Laviniageweihten irgendetwas zu entnehmen, doch es gelang ihm einfach nicht. Sein eigener Gesichtsausdruck war verkrampft, und man sah ihm an, dass ihm die Meinung der Mutter Oberin sehr wichtig war. Wenn ich den Dienerinnen der Gottheit schon nicht zeigen kann, dass ich kein schlechter Mensch bin, wie soll ich es dann Lavinia selbst beweisen? Kurz durchzuckte ihn das Bild des Totenmeeres, wie er es sich vorstellte: tiefschwarze Wellen, von Horizont zu Horizont, und er selbst versank langsam darin. Während er auf ewig ertrank, wurde das Licht der Götter, das auf das Totenmeer schien, immer schwächer und schwächer, bis nur noch drückende Stille und Dunkelheit um ihn herum war. Bis er starb, und doch nicht starb, denn er war verflucht und ertrank ewig auf dem Grund des Totenmeeres.
Er verzog sein Gesicht, als er diese Vision mit Gewalt zu Seite drängte, und sprach gequält:
"Ich wollte meinen Freunden helfen. Ich wollte Gerechtigkeit. Und ich wollte die Schande, die auf mir lag, fortwaschen - und tat es mit dem Blut meines Onkels. Die Diener Alamars verziehen mir meinen Eidbruch. Flamen Magnus Damian aus Voranenburg hat sich meine Geschichte angehört, und fällte das Urteil über mich. Doch das ich mein eigen Fleisch und Blut auf dem Gewissen habe, das wird Lavinia mir nicht verzeihen. Doch bitte ich Euch, Mutter Oberin - ich bin nicht hier, um Vergebung zu erlangen. Ich bin hier, um Euch und unser aller Mutter meine Tochter anzuvertrauen. Beurteilt Jeanne nicht nach Ihrem Vater."