Die Gebiete in Caldrien > Engonia - die einstige Kaiserstadt
Wassilij in Engonia
Lilac:
Dječak glaubte seinen Augen kaum. Wer war dieser Mann?!?
Vlad Starinski hatte etwa die gleiche Statur, wie sein ältester Sohn Mlad; er war nur etwas kleiner als dieser und um die Körpermitte deutlich beleibter. Dennoch war auch bei ihm der Alltag das einzige körperliche Training - er stellte also nicht im Entferntesten einen Gegner für Wassilij dar.
Der Sohn medvjedstanischer Einwanderer röchelte und machte die verzweifelten Befreiungsversuche, die alle in derlei Dingen Ungeübten versuchten. Er griff nach dem Arm des Angreifers und zerrte daran, drückte den Rücken durch, um dem Druck des Knies zu entgehen und wackelte mit dem Kopf, um ihn freizubekommen.
Natürlich alles ohne Erfolg.
Also nutzte er seine letzte verbliebene Möglichkeit; er schnauzte den Fremden an. Kläglich kam die abgedrückte Stimme zwischen seinen Lippen hervor, während ihm vor Wut, Schmerz, Empörung, Panik und Fassungslosigkeit die Augen aus dem hochroten Kopf quollen:
"Bei allen Göttern! Lass mich sofort los, du stinkende Nachgeburt eines Esels!"
Vlad Starinski versuchte ein weiteres Mal erfolglos, sich zu befreien.
Dječak betrachtete die Szene und erlebte ein Wechselbad der Gefühle. Er hatte den Fremden genau beobachtet. Hier war ein Kämpfer, wie er in den Geschichten vorkam: Gestählt, unerbittlich, überlegen, zugleich unauffällig und kaum einzuschätzen und dennoch scheinbar mit einem guten Herz. Warum war dieser erstaunliche Mann hier? Tat er dies alles gerade für Jenna? Und war es wirklich möglich, dass er sich nicht nur für sie, sondern auch für Jabucica und ihn (?!) einsetzte? Woher kam er? WER war er?
Nur kurz flackerte in Dječak die Sorge auf, dass dieser Fremde auch für seine Schwestern und ihn gefährlich sein könnte. Welchen Zweck verfolgte er? War er ein Gesandter des guten oder des schlechten Schicksals?
Die Reaktion seines Vater erfüllte Dječak hingegen mit Trauer. Möglich, dass der Schreck ihn nicht nachdenken ließ, doch vermutlich war es eher die Ignoranz, die ihn so handeln ließ. Jabucica hatte Dječak erzählt, wie der Vater und der Bruder über diesen Mann gesprochen hatten, nachdem dieser den Laden verlassen hatte. Sie hatten ihn als dummen Pferdebauern aus Medvjedstan betrachtet. Ihn zugleich als Geldquelle für nützlich befunden und für seinen Hintergrund und sein Auftreten verachtet. Und offenbar fürchterlich unterschätzt.
Dječak fragte sich, wie das hier weitergehen würde. War der Vater zu stolz, um seine Niederlage zu erkennen und einzugestehen? Denn der Bursche war sich sicher - wenn Vlad Starinski sich weiter wehrte, würde der Fremde nicht mehr so 'gütig' sein. Was wäre, wenn sein Vater zu Schaden kam? Könnte er selbst den Geschwistern dann noch in die Augen schauen? Was würde mit der Mutter? Und Oma Baka? Und Glup? Wie würde Mlad reagieren?
Plötzlich rang es in Dječaks Ohren: "Wenn sie wollen, werde ich Dječak und Jabucica mitnehmen. Und sollte ich herausfinden, dass ihr sie verfolgt oder sonst irgendwie belästigt, komme ich wieder."
Sie wären FREI! Niemand würde ihn mehr bei Tisch einen missratenen Sohn nennen! Niemand würde Jabucica davon abhalten, mit Pferden zu arbeiten! Sie würden Jenna und die kleine Malla wiedersehen!
Dječak war sich nun sicher - der Fremde würde den Vater nicht allzusehr verletzen! Es gab für ihn selbst jedoch nun anderes zu tun, als sich dieses Spektakel hier anzuschauen!
Er sprintete los; zur Zwischentür, in den Wohnraum (kurze Orientierung), zu Jabucica, die auf einem Schemel saß und in einer Schüssel einen Teig knetete, jedoch bei seinem Eintreten innegehalten hatte. Dječak riss ihr die Schüssel aus der Hand und zerrte seine Schwester zur Treppenstiege, die nach oben unter das Dach führte.
"Komm! Pack deine Sachen! Wir gehen fort!", drängte er sie, während er ihr einen ungeduldigen Schubs zu ihrer Bettstatt gab, bevor er sich selbst auf seine Sachen stürzte...
Wassilij:
Wassilij riss kurz den Kopf herum, als Djecak los rannte. Da er zunächst die Richtung von Wassilij hielt und der junge Mann mit der ungeschützten Seite zu Djecak kniete, wechselte Wassilij schnell mit den Knien die Position um den Vater zwischen sich und den Jungen zu bringen. Das führte zu einer starken Überdehnung des Halses. Wassilij lies rechtzeitig los, bevor er den Mann unabsichtlich verletzten würde. Die kurze Zeit reichte dem alten Starinski aus dem Griff zu entkommen und nach einem Messer zu greifen.
Wassilij bemerkte die neue Gefahr rechtzeitig und brachte sich mit einer Rückwärtsrolle in Sicherheit und kam kniend hoch. Auch wenn der Alte keine Erfahrung zu haben schien, konnte das jetzt böse enden. Er röchelte kurz und griff dann Wassilij an. Dieser griff in eine Tasche und warf dem Gegner beim heraus ziehen etwas entgegen. Das etwas entpuppte sich als ein mit Mehl befülltes Ei, welches er zerdrückte und seinen Gegner somit blendete. Fast in der gleichen Bewegung rollte er schräg an seinem Widersacher vorbei und schlug ihm aus der Rolle die Faust auf die angespannte Wade. Die Folge waren Muskelfaserrisse und Starinski knickte vor Schmerz ein. Er stöhnte auf, doch Wassilij war wieder hinter ihm.
"Du Narr, verfolge sie niemals! Ich war nur zum Reden hier! Und beim nächsten Mal, werde ich nicht mehr Reden! Hast du mich verstanden?"
Starinski wollte antworten, doch Wassilij fuhr ihm ins Wort: "Schnauze, dein Sohn ist in meinem Herbergs Zimmer gut gefesselt und wohlbehalten. Also, verfolgt die Drei niemals oder ich komme zurück!"
Mit diesen Worten schlug Wassilij zu. Die Handkante traf zielsicher die Schlagader und der Alte sackte Bewusstlos zusammen.
Nun hörte er Stimmengewirr, als Jabucica und Djecak zurück in den Raum kamen. Bepackt mit dem nötigsten.
"Ich gehe davon aus, dass ihr mich begleiten wollt? Gut, reden wir dort weiter, wo weniger Ohren sind."
Lilac:
Aus dem Wohnraum drang Geschrei.
Offenbar wollte eine Frau die beiden Geschwister daran hindern, das Haus zu verlassen. Zudem jaulte noch ein stupide klingender Mann dazwischen.
Als Dječak seine Schwester mit den Worten "Geh schon!" in den Laden schob, kreischte jemand
"JABUCICA! DU KOMMST SOFORT ZURÜCK!"
und eine andere, ältere Stimme krakeelte gehässig in Medvjedstani:
"Ja, geh nur, du mickriger Blondling! Und nimm deine Schwester gleich mit! Da laufen deine beiden 'Nachgeburten', Sarah! Wenigstens diesen Makel sind wir nun los!"
Gequält drang noch ein undeutlich-nuscheliges "Neeiiinn, niiiiich geeeeh'nnn!" von irgendwo durch die Tür, bevor Dječak diese zuzog.
Von innen trommelte jemand mit den Fäusten dagegen ("DU MISTSTÜCK, KOMM SOFORT ZURÜCK!").
Jabucica stand stocksteif im Raum, ihr Bündel im Arm und blickte mit vor Schreck geweiteten Augen und offen stehendem Mund abwechselnd auf ihren am Boden liegenden Vater und auf den Fremden.
Dječak, sein mickriges Bündel unter einem Arm, machte einen großen Schritt auf Wassilij und die Ladentür zu und zog seine Schwester mit sich.
"Los jetzt! Komm schon!", drängte er sie.
Wassilij:
Wassilij schüttelte den Kopf. "Keine Angst. Er ist weitestgehend unverletzt und nur bewusstlos. Los, raus jetzt und mir nach."
Wassilij führte sie durch die Gassen. Er unterband zunächst jedes aufkeimende Gespräch. Einige Zeit dauerte es und sie erreichten eines der Stadttore. Wassilij wies sie an, voran zu gehen. Dann durchschritten die drei das Tor und den beiden wurde klar, dass sie nun frei waren.
Nicht weit von Engonia entfernt, war ein Gehöft, an welchem Wassilij einige Zeit mit dem Besitzer sprach und schließlich etwas Geld den Besitzer wechselte. Der Pferdewirt verschwand und kam mit zwei einfachen Reitpferden und einem stolzen und kräftigen Pferd zurück.
Als die Pferde kamen rief Wassilij kurz "Matsch" und pfiff. Freudig schnaubte das Pferd und lief auf seinen Reiter zu. Matsch war nicht so groß und kräftig wie Jelenas Sudbina, aber nicht weniger Stolz aber dafür schneller und wendiger. Die beiden begrüßten sich freudig, während der Pferdewirt die zwei Pferde weiterreichte. Sie waren bereits gesattelt und somit schwang sich Wassilij geübt in den Sattel.
Wassilij sah überrascht zu, wie gut seine beiden Schützlinge auf den Pferden saßen oder besser, wie sie sich in die Sättel schwangen. Er lächelte und ritt los.
"Folgt mir einfach!"
Nicht viel Später, hatte Wassilij einen guten geschützten Platz für die Nacht gefunden, wo man sie von der Straße aus nicht finden würde.
"Hier werden wir übernachten. Wenn ihr Fragen habt, dann ist jetzt die rechte Zeit gekommen. Setzt Euch und fragt, was ihr wissen wollt, während ich ein verstecktes Feuer vorbereite."
Lilac:
Die beiden Geschwister waren unkomplizierte Gefährten.
Auf dem Weg zum Stadttor zeigte Dječak dem Fremden die ein oder andere Abkürzung, ansonsten hielten sie sich aber beide zurück und überließen ihm die 'Reiseleitung'.
Unverholen bewunderten die Zwei den braunen Hengst. Fachmännisch überprüften sie alsdann ihre eigenen Reittiere und deren Ausrüstung, strahlten sich gegenseitig an und ritten glücklich hinter dem Mann her, der ihr Leben so abrupt über den Haufen geworfen hatte.
Weder Jabucica noch Dječak kamen umhin, immer wieder selig zu grinsen und ihre Pferde zu streicheln, zu klopfen und sich beim Reiten für einen Moment einfach mit geschlossenen Augen über deren Hälse zu legen.
Als sie das Nachtquartier erreichten, stiegen beide schwungvoll aus den Sätteln und kümmerten sich zuerst ausgiebig um die Tiere, bevor sie sich selbst ein Lager bereiteten.
Als alles soweit zurecht gelegt war, trat Jabucica mit 'ihrem' Pferd, einem Fuchwallach, der Dječaks Braunem in Gutmütigkeit in nichts nachstand, zu den Männern ans Feuer.
Das schlanke Reittier zuckte mit den Ohren nach den rauchlos brennenden Hölzern und schnaubte mit geweiteten Nüstern, ließ sich aber dennoch von der jungen Frau heranführen.
Als diese dann auch noch begann, ihn an den 'magischen' Stellen zu kraulen und zu kratzen, war seine Glückseligkeit offensichtlich.
"Ihr heißt nicht wirklich 'Stanislav', nicht wahr, Herr?", begann Jabucica leise das Gespräch, nachdem sie und Dječak einen kurzen Blick und ein Nicken getauscht hatten.
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