Der Städtebund von Tangara > Ayd'Owl-Akademie
Die Akademie zur Ayd'Owl im Sommer 265 n.J.
Sandra:
"Ah, du bist doch hier." Mit diesen Worten legte sie ihre Schreibsachen und Bücher ab und sah sich prüfend im Zimmer um.
"Ja, ich habe eben mit Kadegar gesprochen aber ich dachte, du bist vielleicht unterwegs. Also wenn du magst, kannst du mir helfen, die Felle da vorn zu einem Bündel zu schnüren und ich packe eben die anderen paar Sachen zusammen. Mittlerweile geht das immer recht schnell und ich weiß, was ich so einpacken muss."
Schnell hatten sie alles Wesentliche gepackt und verabschiedeten sich dann voneinander.
Kydora drückte Stella noch einmal fest. "Mach's gut und pass auf dich auf."
Stella erwiderte die Umarmung und grinste. "Wird schon schief gehen - oder so ähnlich. Dann viel Spaß noch hier und wir sehen uns dann in Selophia."
Damit verschwand Stella den Weg hinunter durchs Tor und in die Stadt, wo sie sich mit Kadegar verabredet hatte.
Rikhard Kraftweber:
Das kann doch nicht so schwer sein! Frustriert schlug Rikhard die Hände über dem Kopf zusammen. Seit Stunden versuchte er, eine Denkaufgabe zu lösen, die ihm einer der Dozenten in Logischer Bildung gestellt hatte. Am Ende hatte daraus ein Aufsatz zu entstehen, den der Dozent einsammeln und benoten würde. Zum gewiss hundertsten Mal las er die Beschreibung:
Ein Gefangener wird dazu verurteilt, im Laufe einer Woche hingerichtet zu werden.
Hinrichtungen finden immer genau zur Mittagszeit statt.
Ihm wird der Tag der Hinrichtung nicht mitgeteilt, um ihn in banger Erwartung zu halten.
Zudem wird ihm gesagt, der Termin sei für ihn völlig unerwartet.
Also konnte es nicht der letzte Tag der Woche sein. Denn dann wüsste der Gefangene bereits am Vortag von seiner Hinrichtung, und sie wäre nicht unerwartet. Der Zeitpunkt sei aber stets unerwartet, und so konnte es nicht dieser Tag sein. Davon ausgehen, konnte der vorletzte Tag auch ausgeschlossen werden. Denn wenn die Hinrichtung am Vortag des vorletzten Tages nicht stattgefunden hätte, und der letzte Tag doch auszuschließen war, so konnte es auch nicht der vorletzte Tag sein, denn dann wäre es ja nicht unerwartet.
Auf diese Art hatte Rikhard die Tage zurückgerechnet, bis zum Ersten, und war zu dem Schluss gekommen, dass dadurch, dass alle Tage auszuschließen waren als Tag der Hinrichtung, ein jeder Tag die unerwarete Hinrichtung bringen konnte. Ein Paradoxon. Hin und her hatte er gerechnet und gedacht. Auf seinem Schreibtisch rollten sich Pergamentblätter, manche beschwert und offen gehalten, andere scheinbar achtlos fortgestoßen, bekritzelt mit Notizen noch und nöcher.
Er schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase, dann wischte er mit dem Unterarm kurzerhand alles an Papier und Pergament vom Tisch. Trotzig zog er die Schultern hoch, dann griff er nach einem frischen Blatt, spitzte die Feder mit einem kleinen Messer an und tunkte sie in die dunkle Tinte.
In seiner ordentlichen, kleinen Handschrift begann er:
"'Dieser Satz is falsch.' Das ist die grundlegende Annahme, auf die sich die gestellte Aufgabe bezieht. Mag sie auch kompliziert sein und ihre Komplexität durch zusätzliche Informationen, eine Multiplizität von possibilen Szenarien erhalten und der Realität der Jurisdiktion entnommen sein, so kann das ursprünglich beschriebene Konstrukt am Ende doch zurückgeführt werden auf den Satz, mit dem diese Schrift beginnt."
Eine Pause. Ganz sicher? Es gibt keine Lösung? Was, wenn.. Nein. Rikhard verbat sich das erneute Eintauchen in die Szenarien. Er war sich sicher. Es war ein Paradoxon und kein lösbares Szenario, das hier beschrieben worden war.
"Dadurch, dass an jedem Tag die Erwartbarkeit der Exekution des Urteils (i.e. die Exekution des Gefangenen) auszuschließen ist, ist die Erwartbarkeit an jedem Tag explizit. Doch bei Erwartbarkeit findet das Urteil nicht statt. So ist an jedem Tag die Exekution zu erwarten und doch wieder nicht zu erwarten, was natürlich die Exekution wieder erwartbar macht. Ein Kreis. Ein Paradoxon. Doch an dieser Stelle wird es erst interessent: der Kreis kann jederzeit von einer aktiven Handlung, nämlich dem tatsächlichen Vollstrecken des Urteils, unterbrochen werden. In dem Moment, wo der Wärte die Zelle betritt und den Gefangenen hinausschleift, werden Fakten geschaffen. Da dieser Moment nicht vorherzusehen ist (denn das genannte Paradoxon ist ein Kreis, keine Wegscheide!), ist jeder Moment für den Gefangenen unerwartet. Es wird von einem Schwarz-Weiß-Denken ausgegangen: UNERWARTET gegen ERWARTET. Das Paradoxon jedoch kennt weder schwarz noch weiß, es kennt nur den Kreis. Die Realität jedoch lebt von Aktion und einer stets als Konsequenz zu erwartenden Reaktion. In diesem Fall ist die Aktion (i.e. die Exekution) stets erwartet und unerwartet zugleich, das Realitätskonstrukt von Schwarz und Weiß wird also durch 'Kreis und Weiß', wenn man es denn so bezeichnen will, ersetzt. Das Erwarten und das Negieren des Selbigen zugleich ist jedoch wiederum genauer zu evaluieren: denn durch das gleichzeitige Vorhandensein zweier Gegensätze, die sich ausschließen, wird das Paradoxon zur Realität. Denn: unerwartet und erwartet schließt sich aus. Doch findet es gleichzeitig statt. Ergo ist zu jedem Zeitpunkt, da der Gefangene die Hinrichtung erwartet, die Hinrichtung unerwartet. Und wenn der Gefangene die Hinrichtung nicht erwartet, ist sie ebenfalls unerwartet, als Teil des Paradoxons. Die Realität gebietet also an dieser Stelle, den Gegensatz des Paradoxons zu missachten und nur in eine Richtung zu interpretieren ('die Exekution ist stets unerwartet'), während die Fiktion des Beispiels darauf bestehen muss und wird, dass es keine Lösung dieses Dilemmas gibt.
Ich bevorzuge es, mit der Realität zu gehen. Wenn der Henker die Zelle betritt und den Gefangenen abholt, so wird es für diesen unerwartet sein."
Die Tinte musste trocknen. Und es galt, weitere zwei Seiten zu verfassen. Doch zunächst beschloss Rikhard, einen Nachmittagsspaziergang zu unternehmen. Die Luft war für den an sich kalten Herbst wirklich warm, und in der Stadt war momentan nicht allzuviel los.
Anders:
Runa:
Auch Runa genoss die Nachmittagssonne. Natürlich war diese nicht mehr so stark wie im Sommer, aber stärker als in den letzten Tagen. Anscheinend bemühte sich der Herbst noch einmal seinem Namen gerecht zu werden und ließ alles in einem goldgelben Licht erstrahlen. Gemächlich schlenderte sie durch die Gassen der Stadt. Sie überlegte vielleicht ein kleines Andenken für ihre Schwester zu besorgen um ihr einen Freude zu machen, wenn sie wieder einmal zu Hause zu Besuch war.
Aber vermutlich würde die kleine jeder kleine Zaubertrick mehr erfreuen, als eine Puppe oder jeder Haarschmuck den sie würde auftreiben können.
Sie hatte ihr zwar schon oft erklärt, dass man möglichst nicht aus Spaß zaubern sollte, aber Verantwortung war für eine siebenjährige noch nicht ein besonders starker Begriff.
Als sie aufblickte entdeckte sie in der Nähe Rikhard. Auch er schien den Nachmittag nicht ungenutzt verstreichen lassen zu wollen. Sie nickte ihm grüßend zu:"Guten Tag Herr Kraftweber."
Rikhard Kraftweber:
"Frau Steinhauer, guten Tag!"
Ein Lächeln stahl sich auf Rikhards Gesicht. Runa war seine schärfste Konkurrentin in ihrem Jahrgang, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, war sie sogar noch ein wenig schneller, ein wenig schlauer als er. Das fraß an ihm, aber es war zu ertragen. Schließlich konnte man sich mit ihr zumindest auf einem hohen intellektuellen Niveau unterhalten.
"Ein wunderbarer Tag, nicht wahr? Die Sonne strahlt, als wäre es noch Sommer. Das muss man doch nutzen. Aber sagt mir, wie kommt Ihr mit dem Aufsatz in Logik voran? Mich hat's bereits Stunden gekostet, und es ist frustrierend. Mir will keine rechte Lösung einfallen, und ich glaube tatsächlich, ein unlösbares Paradoxon identifiziert zu haben."
Anders:
Runa:
Ja das Wetter war wirklich herrlich. Und obwohl sie jetzt schon eine Weile zusammen auf der selben Akademie waren, wusste Runa noch immer nicht sicher wie sie zu Rikhard stand. Er war sehr zielstrebig und verbissen schnell und sicher zu höheren Positionen auf zu steigen, zumindest im theoretischen. Wie es im praktischen war wusste sie nicht. Aber eben diese Zielstrebigkeit gab ihm oft eine gewisse Verbohrtheit, die ihn an manchen Tagen furchtbar unsympathisch machten. Und wie sagt ihr Vater so oft, wer zu schnell gerade aus rennt, verpasst die Kurven im Leben und landet in einem Graben oder an einer Mauer.
"Nun ein Paradoxon ist es zweifellos, doch habt ihr wirklich Stunden darüber gebrütet?" Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme leicht erstaunt klang. Sie hatte zwar auch ein wenig gebraucht, doch wäre Stunden nicht die Maßeinheit die sie gewählt hätte. Nachdenklich sann sie über ihre eigene Schlussfolgerung nach. Hatte sie etwas übersehen? Für sie war ihre Argumentation schlüssig erschienen.
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