Norodar war ein kleines Städtchen im tangarischen Hinterland. Geprägt wurde es vor allem durch sein Erscheinungsbild: wenige Fachwerkhäuser, wenige Holzhäuser, dafür um so mehr solide, meist zweigeschossige Steinbauten. An und für sich war es ein kleines Städtchen mit sieben-, vielleicht achthundert Menschen darin, doch vor allem vom Frühling bis zum Herbst lebten dort noch mehr Leute. Der Grund dafür war der „Große Bruch“ nur wenige Meilen nördlich des Dorfes: ein Steinbruch, in dem sich nicht nur grauer, harter Granit fand, sondern auch feiner, heller, von dünnen grauen Äderchen durchzogener Marmor.
Eine saubere Stadt, in den Wirren des Bürgerkrieges weitestgehend von Unbill verschont geblieben. Zwar hatte es auch dort Auseinandersetzungen gegeben, doch waren diese recht schnell beigelegt worden - der Lupus Umbra hatte dort nie fest stationierte Krieger unterhalten, und der Bürgermeister und der Stadtrat waren recht schnell übereingekommen, dass man den Krieg abwarten wollte und sich vorrangig aus bewaffneten Konflikten heraus halten wollte. Zwar waren nicht wenige junge Burschen losgezogen, um sich der einen oder der anderen Seite anzuschließen, aber zu wirklichen Kämpfen war es nie gekommen. Ein ehrgeiziges Senatsmitglied, dass sich Konar anbiedern hatte wollen und Milizionäre für den Tiorsorden hatte rekrutieren wollen, hatte man im nahen Wald gefunden - irgendwie musste der Mann gestolpert und in eine Schlinge gefallen sein. Jedenfalls baumelten seine Füße zwei Meter über dem Boden.
Doch genug mit drögen Historien. Heute war Norodar eine aufblühende Stadt. Stein war gefragt - Schiefer, um Dächer abzudecken, Kies und Geröll, um Wege zu befestigen, und sogar Marmor, um im Krieg beschädigte Prunkbauten wieder aufzubauen. Die Ochsenkarren, die abgebaute Ware aus dem Großen Bruch brachten, lieferten bis hoch nach Engonia, und entsprechende Zölle und Steuern spülten Geld in die Stadtkasse.
Grade jetzt, im Spätsommer, herrschte rege Geschäftigkeit auf den Straßen und Gassen Norodars, und die Gasthäuser und Herbergen quollen über, weil sich zahlreiche Tagelöhner und Wanderarbeiter einquartiert hatten. Die zwei, drei Meilen, die zwischen Steinbruch und Norodar lagen, hatte Vanion rasch überbrücken können, und das Tageslicht wandelte sich langsam zu diesem goldenen, melancholischen Licht, das Alamars Auge auf die Erde warf, wenn es Abend wurde.
Der Krieger ritt langsam eine der Hauptstraßen Norodars entlang, darauf achtend, im herrschenden Gedränge nicht gegen jemanden zu prallen. Zahlreiche Stimmen erfüllten die Luft; aufgeregte Rufe von Straßenhändlern, die ihre Waren anpriesen, das Blöken von Ochsen und Eseln und Maultieren, angeregte Gespräche am Straßenrand, eben das typische Durcheinander, das eine lebendige Stadt ausmachte. Auch die Gerüche, die an seine Nase drangen, waren vielfältig: dort roch es nach gebratenem Fleisch, hier wieder nach frischen Gewürzen, und allzu oft gab es eine Wolke von scharfem, stechenden Dunggeruch. Als ein Stück vor ihm an einem Haus im Obergeschoss die Fensterläden aufgingen und eine Frau mit herzhaftem Schwung einen Kübel auf die Straße leerte, musste er schmunzeln, im Gegensatz zu dem Straßenhändler, der die zweifelhaften Gaben direkt auf den unbedeckten Schopf bekam.
Nun öffnete sich die Straße auf einen weiten, vollständig gepflasterten, kreisrunden Platz. An der Kopfseite dieses Platzes erstreckten sich verschiedene Gebäude: das durchaus schön anzusehende Rathaus, das etwas nüchterner wirkende Gerichtsgebäude und direkt daneben ein Gebäude, dass man nur als Kasten bezeichnen konnte: die Stadtwache.