Ihre Gedanken gingen zurück nach Westmynd und dem Morgen ihrer Abreise und anschließend weiter zu dem was Vanion ihr erzählt hatte als Lyra auf Silas zu sprechen kam. Sie könnte zumindest verstehen, wenn er keine Ruhe finden könnte wegen der Sache mit seinem Bruder. Lorainne hatte ihn einfach getötet und es Silas bis heute verschwiegen.
“Ich weiß, was du meinst - und es würde mich nicht wundern…” sagte sie betroffen.
Unkommentiert nimmt Stella das leichte Zucken von Lyra zur Kenntnis, sie kennt die Fee nun schon lange genug um das Unbehagen zu diesem Thema wahrzunehmen. Doch da Lyra das Gespräch wohl lieber verschieben möchte, stimmt sie ihr bezüglich der Bettruhe zu, stößt sich vom Geländer auf dem sie gesessen hatte ab und landet schwungvoll wider auf dem Boden.
Die zwei klettern wieder unter Deck und wünschen sich eine gute Nacht.
Um die Dunkelheit aus ihrer Kammer zu vertreiben, so lange sie sich noch zum Schlafen fertig macht, spricht sie ein paar Worte und die große Lichtkomponente in der Ecke erhellt den Raum deutlich. An den Wänden sind Gorix’ und ihre Kisten und Bündel verschnürt, ihren Umhang hatte sie auf einer weiteren Hängematte abgelegt während in einer anderen Gorix’ Robe lag. Sie prüfte noch einmal, dass die Sachen ihres Meisters ordentlich verräumt waren, legte die Robe zusammen und machte sich dann bettfertig, nimmt einen schimmernden Stein aus ihrer Tasche und schaut ihn einen Moment an, bevor sie auch ein kleines in Leder gebundenes Buch herausholt und beides mit in die Hängematte nimmt.
Mit dem Stein in der Hand schlägt sie die letzten Einträge auf und liest sich diese noch einmal durch - die Träume der vergangenen Nächte. Immer wieder. Vor ihrem geistigen Auge erscheinen wieder die Bilder die sie ein halbes Jahr schon verfolgen. Wenn sie sie so liest behält es zwar seinen Schrecken, denn der Gedanke daran, dem Schalk noch einmal gegenüber zu stehen und nicht nur in ihren Träumen erfüllt sie mit einer Mischung aus Aggressivität und Angst. Die Magierin weiß nicht, wie sie dann reagieren würde… Nur ein paar Ideen und Verwünschungen für dieses abartige Wesen gehen ihr durch den Kopf.
Das Gespräch von vorhin schiebt sich dazwischen und Kadegars Worte hallen nach.
“Vermutlich würde ich eher in eine messerscharfe Fokussierung fallen. Der reine Hermetiker handelt immer bewusst. Ich würde genau wissen was ich tue, ich würde jede Grenze bewusst überschreiten und ich vermute, dass ich auch euch hier und jetzt sagen könnte, was ich in solch einer Situation tun würde, denn ich weiß über meine Möglichkeiten bescheid und weiß wie ich besagte Grenzen überschreiten kann”
Was würdest du tun, Stella??
Würde sie noch Kontrolle behalten? Würde sie doch wieder intuitiv in das arkane Geflecht greifen, um sich mit aller Kraft zu verteidigen?
Kannte sie die Grenzen von denen Kadegar da sprach? Nein… Sie kannte nur ihre Erschöpfungsgrenze, doch nicht ausreichend exakt. Sie wusste nur, dass es sie gab, dass sie diese zwischendrin erreichte und was für fiese Kopfschmerzen und Schwächeanfälle das machte. Doch sie war sich sehr sicher, dass das Überschreiten dieser Grenzen von denen Kadegar sprach für sie noch sehr sehr lange kein Thema sein würde und könnte. Sie war gut, doch lange noch nicht weit genug um sich mit solchen Themen zu befassen.
Sie merkt nicht, wie sich bei diesen Gedanken ihre Hand verkrampft und sie den Mondstein umklammert.
Während ihr Herschlag und ihre Atmung schneller werden fühlt sie wie ein kleines Feuer in ihr immer weiter wächst oder Wellen sich auftürmen bevor sie sich an der Küste brechen.
Zitternd am ganzen Körper wird Stella sich dessen bewusst und will gerade anfangen, ihre Gedanken wieder zu beruhigen, als Gorix die Kammer betritt.
Mit einem Gefühl ertappt worden zu sein öffnet sie wieder die Augen, warum sie sich so fühlte wusste sie selbst nicht ganz genau. Vielleicht, weil sie gerade damit kämpfte, ihre Gefühle im Zaum zu halten und nicht schwach wirken wollte oder weil sie keine Antwort auf ihre Frage hatte.
Na dass du schlecht schläfst, weiß er ja ziemlich genau… Aber nicht von den anderen Gedanken über die ganze verfluchte Geschichte!
Mit dem üblichen eindringlichen Blick, den er haben konnte musterte Gorix Stella und sie hatte das Gefühl, sein Blick würde sie durchleuchten.
Sein Blick fiel auf das Büchlein in ihrem Schoß. “Die Träume?”
Stella nickte und öffnete die Hand, die den Mondstein umklammert hatte als Beweis, immer noch leicht zitternd.
Naja, mehr oder weniger stimmte das ja auch…Irgendwie.
Sie war sich nicht sicher, ob er sie durchschaute, doch gab er sich mit ihrer Antwort aktuell zufrieden.
“Brauchst du eine ruhige Nacht?”
Sie schüttelte den Kopf und ihre Locken fielen ihr dabei über die Ohren ins Gesicht. “Nein, danke.” Ein tiefer Atemzug und fast energisch wischt Stella sich mit der Hand durchs Gesicht. “Ich versuche ja, dem Ganzen möglichst wenig auszuweichen. Du weißt ja, ist keine Lösung und so… Aber ich könnte das demnächst vermutlich nochmal gut brauchen.”
Ihr Meister nickte zustimmend und Stella wusste, dass er ihre Einstellung unterstützte.
Während Gorix sich nun ebenfalls zum schlafen fertig machte schloss die Magierin erneut die Augen, konzentrierte sich ganz auf ihre Atmung und schob damit die aufrüttelnden Gedanken endgültig beiseite, die schon während des Gesprächs langsam verblasst waren.
Seufzend legt sie dann das Buch und den Stein unter ihr Kissen und wartete dann, bis Gorix sich hingelegt hatte, entließ schließlich den Lichtzauber wieder, kuschelte sich tief in ihre Felle und war auch bald darauf eingeschlafen.
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Bald schon konnte man die Küste vor ihnen auftauchen und näher kommen sehen. Die rauhe, doch grün bewachsene Felsküste, die steil ins Meer fiel und an der sich die Wellen weiß spritzend brachen wurde immer größer und irgendwann konnte man auch den Hafen und die Stadt erkennen.
Der salzige Geruch der See vermischte sich im Hafen mit dem Geruch nach Algen, Fisch und der Stadt und hieß sie willkommen.
Während die Händler sich um ihr Schiff und die Ladung kümmerten meldeten Kadegar, Lyra, Gorix und Stella sich beim Hafenmeister und erklärten ihm, dass sie Magier waren die auf Wunsch von Sir William von York angereist waren und hier wohl Dokumente für sie bereit liegen würden. Daraufhin wurden sie zur Hafenmeisterei gebracht, wo man ihnen die entsprechenden Schriftstücke aushändigte.
Da es noch um die Mittagsstunde war, würden sie auch noch heute so bald es ging aufbrechen und weiter reisen. Also sorgten die vier dafür, dass ihr Gepäck verladen wurde und sie mit einer Kutsche zumindest in die Nähe gebracht würden, um anschließend mit dem Tross von Sir William den Weg zurück nach York Castle anzutreten.
Kydora, Rikhard und Runa hatten sich dazu entschieden, noch ein paar Tage hier zu verbringen, bevor sie zurück nach Engonien reisen würden, und würden sich wohl nach einer Unterkunft umsehen, nachdem sie ihr Gepäck vom Schiff geräumt hatten.
Und so trennte sich hier die Gruppe bald voneinander und man verabschiedete sich.