Die schweren Pforten der Akademie öffneten sich und eine einsame Figur betrat die Flur. Es war eine nicht besonders große Gestalt, die einen Zauberstab mit sich trug. Von unter der Kapuze hängten lange silberne Haare. Die Pforten schlossen sich hinter sie und die niedrige Frau nahm die Kapuze weg. Auf ihrem Gesicht war eine Narbe zu sehen, die sie seit einigen Tagen schon besaß.
Drakonia blinkte ein paar Male, bis ihre Augen sich an der Halbdunkelheit in der Flur angewöhnten, dann ging weiter nach ihrem Zimmer. Sie hatte viel zu überlegen und wollte die entsprechende Ruhe dafür haben. Ihre Gedanken waren zwar klarer als vor ein paar Tagen, doch völlig konzentrieren konnte sie sich nicht. Sie vermutete, dass es noch länger dauern würde, bis sie wieder in der Lage wäre, klar zu denken.
Ihr Zimmer sah genauso aus als sie dieses verlassen hatte – Schriftrollen lagen chaotisch auf dem Tisch, sonst war alles aufgeräumt. Die Elfe lenkte den Stab an der Wand und setzte sich langsam auf dem Boden. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und ließ alle Emotionen und physische Gefühle langsam ihren Einfluss auf ihr verlieren, bis ihr Bewusstsein so tief in der Ruhe gesunken war, dass sie nicht mehr von etwas oder jemandem erwacht werden konnte, wenn sie das nicht wünschte.
Was in Tiefensee passiert war, war vorbei und daran konnte Drakonia nichts ändern. Versuchen könnte sie zwar, das Vertrauen von den anderen zurück zu gewinnen, aber zuerst sollte sie wieder Vertrauen in sich selbst aufbauen. Zurzeit hatte sie keins. Ihr war klar, dass sie nicht mehr stark genug war, um auf ihre einmaligen Kräfte Zugriff zu nehmen, und die Lust dazu fehlte ihrem Willen auch. Allerdings war es nicht so leicht wie es aussah, auf dem Weg zum Licht zu bleiben. Den unbewussten Drang nach der dunklen Macht spürte sie immer noch und sie wusste, dass sie diesen bis zu ihrem letzten Tag spüren würde, wie eine Krankheit, die nicht geheilt werden konnte. Das Ziel, dass vor ihr lag war, diesem Drang nicht nachzugehen. Viele Kämpfe lagen vor ihr, doch sie wusste, dass der Schlüssel zum Gewinn von all diesen im Gewinn von dieser Kampf lag. Das Wichtigste, was sie brauchte – zu wissen, dass es noch Leute gibt, die hinter ihr stehen würden, wenn nötig – war vorhanden und sie fühlte sich nun sicherer als vor einer Woche.
In Travien hatte sie alles zu Magister Kadegar berichtet. Als sie ihn in der Taverne getroffen hatte, zitterte sie vor Angst und konnte die Tränen in ihren Augen nur schwer verstecken. Alle hatten ihr erzählt, dass der Magister ziemlich streng war und dass er sie für ihre Taten bestrafen würde. Außerdem erinnerte sie sich, dass er sie beim Exorzismus fast getötet hatte. Ihr war klar, dass er in der Lage war, sie umzubringen, wenn nötig. Für einigen Momenten war sie auch kurz davor, ihn darum zu bitten. Der Alptraum wäre zu Ende gekommen…
Aber der Magister hatte einfach ruhig auf sie zugehört. Sofern sie einschätzen konnte, war er nicht wütend geworden. Nicht nur hatte er sie nicht bestraft, sondern hatte ihr den Windstoß beigebracht und sie auf der Suche nach den magischen Waldsteinen mitgenommen. Und damit hatte er dafür gesorgt, dass sie nichts Dummes mehr machen würde – sie würde sich schuldig fühlen und Angst haben, dass er doch streng werden kann. Und das war sicherer als wenn er sie bestraft hätte.
‘‘Eine schlaue Lehrmethode, muss ich zugeben‘‘, dachte sie.
Was sie allerdings noch besser gefunden hatte waren die Gespräche mit Yori. Dass ein Mensch einen anderen angefeindet hatte, weil der zweiten ihr – einer Elfe – nicht helfen wollte, war für sie einfach schwer zu begreifen. Sie selbst hatte Stella schon vergeben, weil sie ihre Gründe gut verstehen konnte. Aber das wichtigste war, dass Yori sie nicht für dumm und arrogant hielt. Er verstand gut warum sie alles getan hatte, hatte auch mal Dummheiten gemacht wegen Freunden. Und Drakonia wusste, dass sie nicht mehr alleine war. Seit Maarja tot war, hatte sie eigentlich niemandem außer Falke, Maarjas Leibwächter, Vertrauen geschenkt. Sie glaubte, sich selbst zu haben sei genug. Es hatte sich festgestellt, dass es nicht so war. Isolation war für sie gefährlich. Und der Brief von Ysander war auch ein weiterer Beweis, dass es noch jemanden gab, der ihr zuhören und beraten würde. Das war alles, was sie brauchte.
Aber nun würde sie sich freiwillig in der Akademie sperren lassen. Komplett isoliert würde sie nicht sein – sie würde noch den Unterricht besuchen und mit den Leuten in der Akademie sprechen – aber für eine gewisse Zeit würde sie Schattenwall nicht verlassen. Sie hatte keinen Hausarrest bekommen, war nicht gezwungen, das zu machen – fühlte aber, dass es nötig war. Sie brauchte Zeit, mindestens so lang, um sich entscheiden zu können, was sie machen würde. Und ihren Zauberstab würde sie Magistern Flammbart für die Zeit überlassen.
Die Zeit würde sie nutzen um sich vorzubereiten. Sie war entschlossen, Atos zu finden und zu bekämpfen, aber bevor die Zeit dafür gekommen war, brauchte sie stark genug zu werden, was nicht auf einmal klappen würde. Sie würde klein anfangen und langsam auf den Weg gehen. Zwar war sie der Meinung, dass man nach vorne rennen sollte, aber sie wusste gut genug wo sie damit enden konnte. Wenn sie zu schnell gehen würde, würde sie nicht bemerken, wenn sie in die falsche Richtung gehen würde.
Kleine Schritte. Keine Emotionen. Ruhe, Kontrolle, Disziplin.
Langsam wachte sie von der Meditation auf. Sie stand auf, nahm den Stab in der Hand und betrachtete ihn für einige Minuten. In einigen Wochen oder Monaten würde sie den wieder abholen, aber jetzt würde sie ihn zu Magister Flammbart bringen. Sie nahm sich einige Sekunden um sich psychisch vorzubereiten und ging zur Tür, öffnete die und ging durch die Flur in Richtung Magister Flammbarts Studierzimmer.