Vom Rücken seines Pferdes aus sah die condrianische Landschaft wirklich schön aus. Zumal der Matsch und der Schlamm des Weges endlich nicht mehr an seinen Stiefeln klebten. Er war recht spät aufgestanden und aufgebrochen, denn er hatte vor, die Reise zu genießen und ohne Eile nach Engonien zurückzukehren.
Während er ritt, ließ er den gestrigen Abend Revue passieren. Gida, und sein Streit mit ihr. Die Worte von Erik Sturmfels hatten ihn zum Nachdenken gebracht. Natürlich, es war schlauer, nur Kämpfe auszufechten, die man gewinnen konnte - aber diese Maxime hatte Vanion nie befolgt. Wieso riet er also nun anderen zu einem Verhalten, das er selbst nicht an den Tag gelegt hatte? Vielleicht hätte er einfach den Mund halten sollen. Er hatte es gut gemeint, aber einen Standpunkt zu vertreten, der nicht der eigene war, konnte nicht glaubhaft geschehen.
Eine weitere Lektion, Vanion! Nur weil du mit deiner Waffe umgehen kannst, macht dich das nicht zu einem weisen Mann, der alles weiß.
Die Hufe seines Pferdes verursachten schmatzende Geräusche. Der Weg war einfach zu aufgeweicht. Verflucht sei das Wetter hier! Da lobe ich mir den tangaranischen Sommer.
Seine Gedanken wanderten ein wenig, doch am Ende landeten sie bei Kydora. Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen, während er versuchte, sich an das Ehegelübde zu erinnern, doch es hatte zuviele Zwischenrufe und hämische Bemerkungen gegeben, als dass er alles hätte verstehen können. Eines stand jedoch fest: Kydora und Robert hatten Furathas Segen erhalten und waren nun Mann und Frau. Oder Zwerg und Magierin. Was am Vorabend geschehen war, konnte nur mit sehr viel Alkohol erklärt werden, und ihn schauderte ein wenig bei dem Gedanken, dass vor drei, vier Jahren er mittendrin im Pulk gestanden hätte.
Auf der einen Seite tat Vanion sich schwer mit solchen Abenden: er war anerkannt worden, er war von Stand. Er konnte sich also nicht betrinken, und hatte es auch nicht getan. Trotzdem war auch ihm der ein oder andere freche Spruch über die Lippen gekommen. Du musst dich noch mehr zügeln. Du magst den Goldkrug seit Jahren kennen, aber sei ehrlich: es ist nicht gerade eine edle Schenke. Eher ein übler Schuppen.
Doch auf der anderen Seite tat die Unbeschwertheit, die ein solcher Abend mit sich brachte, seiner Seele wohl. Die letzten Monate waren hart gewesen, und die nächsten Monate und wahrscheinlich Jahre würden härter werden. Damian hatte sehr deutlich gemacht, in welche Richtung es gehen würde. Die Inquisition Alamars trieb ihr Unwesen in Engonien, und auch andere Dinge waren in Bewegung. Große Dinge. Politik.
Ein caldrischer Adliger mag nicht viel Macht besitzen, aber wenn ich irgendwas zum Guten wenden kann, so werde ich das tun. Der Tod meines Onkels verpflichtet mich dazu, Gutes zu tun, wo ich nur kann. Ich muss Buße vor Lavinia tun - denn so hatte Leonie es gesagt, und die war eine Amabilis, die musste es wissen! - denn sonst werde ich auf ewig im Totenmeer schwimmen und niemals erlöst werden. Plötzlich musste er schaudern. Diese Vorstellung war einfach zu unglaublich, zu unfassbar, und doch war sie ganz konkret zu erwarten. Denn seit er Savaric erschlagen hatte, hatte er nicht mehr vermocht, zu Lavinia zu beten. Sein Leben lang hatte er immer auf ihren Schutz vertraut, doch die heilenden Arme der Mutter waren ihm nun gewiss verschlossen. Nun, jedenfalls bis ich Buße getan habe. Sie hat mir eine zweite Chance gegeben, sonst wäre ich gewiss längst von Alamar bestraft worden.
Während er den Goldkrug weiter hinter sich ließ, dachte er weiter über Lavinia nach, und über sich, und über sein Leben. Er hatte nach und nach seine Freunde von sich gestoßen. Anders hatte er zurückgewiesen, und die Brücken zu Lorainne waren, wie sein Knappeneid, gebrochen. Der Umgang mit seinen Saufkumpanen von früher verbot sich ihm, da er schlicht nicht mehr dazu gehörte. Der Eidbruch und der Sippenmord waren ein Einschnitt gewesen: alles, was war, zählte nicht mehr. Zählen würde nur noch das, was er von nun an tun würde, und Vanion war fest entschlossen, Gutes zu tun.
Gutes. Was bedeutet das eigentlich? Das Gespräch mit Kadegar kam ihm in den Sinn. Die Ideale des Rittertums, die konträr standen zu Vanions eigenen Idealen. Aber war das wirklich so? In diesem Dorf in Andarra, als er auf Yezariel getroffen war - und als ich für Goldbach kämpfte! Für Goldbach, das mir Baum und Strick versprochen hat!, dachte er nicht ohne Bitterkeit - da hatte Yezariel davon gesprochen, dass das Rittertum Opfer mit sich bringt, aber dass all die Ideale, die Vanion hatte, auch im Rittertum zu finden waren. Dass das Rittertum Vanions Bestimmung sei, dass er all die Anlagen dazu habe. Vanion hatte entgegnet, dass der feine Herr Baron Yezariel doch selbst wissen müsse, wie es mit Eiden war, die man schwören muss. Dass ein Ritter nichts weiter ist als ein besser gestellter Söldner, wie Kadegar es gesagt hatte. Und Yezariel hatte ihm zugestimmt. Aber dann hatte Yezariel ihm erzählt, dass er selbst auf Titel und Würden verzichtet hatte, um das wahre Rittertum verfolgen zu können. Dass jeder Fehler habe, dass nie ein Ritter wahrhaft Perfektion erreichen könne.
"Vanion, du hast micht enttäuscht und alle, die an dich und deinen Weg geglaubt haben."
Vielleicht war an diesen Worten etwas dran. Er war anerkannt worden als Bastard. Er war legitimiert, ein Mann von Stand durch Geburt. Vanion aus Roquefort. Kein Land, kein Anspruch - aber die Geburt. Damit ließ sich doch etwas anfangen.
Aus seinen Gedanken erwachend, sah er auf. Dort vorne am Wegesrand saß eine Gestalt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Unter der Kapuze lugten ein paar braune, geflochtene Haare hervor, und diese Gestalt in braun kam ihm sehr vertraut vor.
Grinsend schwang er sich vom Pferderücken, dann ging er auf Kydora zu.
"Guten Morgen, Kydora!" Er verzichtete auf Häme. Entweder war es wirklich die große Liebe gewesen, die zugeschlagen hatte, oder der große Humpen Alkohol. Der sehr große. So oder so, sie hatte den Schaden, also warum noch Spott obendrauf?
"Wie geht es dir? Der gestrige Abend war, höflich gesagt, ereignisreich."