Der nächste Morgen weckte Julienne mit grimmiger Kälte. In der Nacht war das Feuer heruntergebrannt und der Raum deutlich ausgekühlt.
Sie stand auf und ging nach draußen. Der Tag würde schön werden, aber noch war es kalt und feucht.
Einer Eingebung folgend, betrat sie die Stallungen und sog hörbar die Luft ein, als sie zu Hexes Verschlag kam. Der Bursche lag neben ihrer Stute im Stroh und schlief. Das Pferd trat vorsichtig um ihn herum und kam an die Tür. Julienne griff in ihren Beutel, den sie am Gürtel hängen hatte und fütterte Hexe mit dem bröseligen Salzgebäck, das sich darin befand.
Die Stute schnaubte zufrieden und wandte sich dann dem Jungen zu, den sie vorsichtig mit den Lippen im Gesicht kitzelte.
"Hm?", machte dieser und setzte sich verschlafen auf. Stroh steckte in seinem zerzausten, blonden Haar und seine Augen wurden groß, als er die Gardistin gewahrte.
Der Junge rappelte sich hastig auf. "Es tut mir leid, ich wollte nicht..."
Julienne schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. "Schon gut, isch bin dir nischt böse. Wie 'eißt du?"
"Jost.", gab er kleinlaut zur Antwort.
"Seit wann lebst du 'ier, Jost?", wollte Julienne wissen.
Der Junge zuckte mit den Schultern. "Vielleicht vier Monde..."
Die Gardistin sah ihn auffordernd an.
"Ich... ich kam im Winter. Wusste nicht wohin. Bin lange gelaufen. Durfte hierbleiben. Als Bursche. Für die Tiere und so."
Julienne nickte.
Ein Streuner also. Mit einer besonderen Gabe - vielleicht von Nedra verliehen. Sie würde in jedem Fall mit dem Junker über diesen Jungen sprechen. Sollte er hier auf Dauer nicht willkommen sein, würde sie versuchen, auf Goldbach einen Platz für ihn zu finden. Menschen mit dieser Gabe waren selten. Bislang hatte sie nur davon gehört.
Sie verließ den Stall und traf im Hof auf den Haushofmeister.
"Där 'err ist jetzt wach. Er bittet Eusch, mit ihm zu frühstückän."
"Gernö.", sagte Julienne und folgte dem Mann in die Halle.
Sie trat an die Tafel und erschrak zutiefst. Jacques de Bucherôn war blass und sein Gesicht wirkte eingefallen. Er hatte deutlich an Gewicht verloren und die ehemals kräftigen Hände umfassten leicht zitternd einen dampfenden Kelch.
Dennoch lächelte er und seine Augen glänzten, als er Julienne begrüßte.
"Gardistin Julienne! Welsch einö Freudö Eusch zu se'ön! Isch 'offe, Ihr 'attet einö angenehme Nacht. Bitte verzeiht, dass isch Eusch nischt schon gestern Abend empfangen 'abö."
Sie neigte den Kopf. "Vielön Dank für Eurö Gastfreundschaft, Messire. Isch bringö Nachrischt von Madame." Sie kramte in ihrer Tasche und beförderte einen Brief zu Tage.
"Isch dankö Eusch.", sagte Jacques und nahm das gesiegelte Papier entgegen. "Und nun setzt Eusch zu mir! Es war einö kaltö Nacht; da braucht där Leib etwas warmös!"
"Merci beaucoup.". Julienne setzte sich und die Mägde brachten heißen Getreidebrei und Schüsseln mit variablen Zutaten. Es gab Nüsse, Obststücke und Honig.
"Isch 'abe da noch etwas für Eusch...", meinte Julienne mit einem verschmitzten Lächeln und zog eine Flasche Ahornsirup, die Madame ihr für den Junker hatte mitgeben lassen, aus der Tasche.
Jacques Gesicht erhellte sich. "A'ornsirup! Welsch wunderbarös Geschänk!"
Er gab seinem Getreidebrei reichlich davon bei und reichte die Flasche dann an Julienne weiter.
Zum Brei gab es heißen Tee, den sie ebenso mit dem Sirup süßten.
"Isch esse gärn etwas Süßös am Morgän. Abär wenn Eusch e'er nach etwas 'erz'aftöm ist, lasse isch etwas bringen!", sagte der Junker zu Julienne, doch diese winkte zufrieden ab.
Während sie aßen, las Jacques den Brief von Madame. Als er damit fertig war, nickte er und legte das Papier beiseite.
"Ge'ö isch Rescht in der Annahmö, dass Ihr..." begann er, als ein fürchterlicher Hustenanfall seine Worte unterbrach. Jacques griff nach der Serviette und hielt sie sich angestrengt atmend vor den Mund.
Julienne erschrak, als sie etwas rötliches in seinen Mundwinkeln und auf dem Stoff bemerkte, bevor er letzteres hastig zusammenfaltete.
Nach einem Räuspern nahm der Junker den Faden wieder auf: "Isch vermute, Ihr nehmt mein Antwortschreiben gleisch mit?"
"W...was? Äh, oui, genau, das Antwortschreibön...", versuchte die Gardistin sich zusammenzureißen.
Jacques sah sie scharf an, aber es war kein tadelnder Blick.
Nach dem Frühstück ließ der Junker es sich nicht nehmen, mit Julienne das Gut zu begehen. Er zeigte ihr einen neuen Habicht und zwei Fohlen, die vor kurzem geboren worden waren. Im Hundezwinger verbrachten sie einige Zeit, um die Welpen von Jacques Lieblingsjagdhündin zu bewundern.
Hier sprach die Gardistin ihn auf den Stalljungen an.
"Jost?", der Junker nickte bedächtig. "Är kam eines verschneiten Wintertagös 'ier an. Der armö Bengöl 'atte nur Lumpön am Leibö. War völlisch ausge'ungärt und scheu, wie ein wildär 'und. Isch 'abö ihn 'ier aufgenommön, abär mein Gesindö traut ihm nischt. Är ist... andärs..."
Julienne nickte ebenfalls. "Isch glaubö, är 'at einö besonderö Gabö. Isch 'abe von där ge'eimnisvollön Kraft ge'ört, die manschö Menschön übär Tierö 'abön."
Jacques machte eine zustimmende Geste. "Das 'at das Gesindö auch mitbekommön. Und sie fürschten sisch vor allöm, was sie nischt erklärön könnän."
"Isch könnte fragön, ob Jost auf Burg Goldbach einön Platz in den Stallungän bekommön könnte.", schlug die Gardistin vor.
"Es wäre gut, wenn Ihr Eusch darum kümmärn würdet.", stimmte der der Mann zu.
Schließlich betraten die beiden erneut das Wohnhaus und Julienne durfte in Jacques Bibliothek stöbern, während dieser seine Antwort an die Baronin von Goldbach verfasste.
Aus den Augenwinkeln sah die Gardistin, dass die Hände des Junkers beim Schreiben zitterten. Seine sonst so akkurate Handschrift wurde zu einem wackligen Gekritzel.
Schlussendlich musste Julienne wieder los. Sie würde schon spät genug in Goldbach ankommen, es galt, keine Zeit mehr zu verlieren.
"Seid Ihr sischer, dass Ihr jetzt aufbreschen und nischt noch bis morgön bleiben wollt?", fragte Jacques, als die Gardistin Hexe fertig machte.
"Där Weiböl wird sisch Sorgen machön. Und anderö auch...", gab sie ungenau zurück.
Der Junker zog die Augenbrauen hoch und sah sie neugierig an: "Anderö? Gibt es da jemandön, zu dem Ihr zurück möschtet?"
Julienne wurde rot. "Oui", hauchte sie.
Jacques lächelte: "Dann 'abön wir etwas, über das wir uns beim nächsten Mal unter'alten könnän!"
Bevor Julienne losreiten konnte, musste sie dem Junker versprechen, gut auf sich achtzugeben. Ihre Satteltaschen waren nun gut gefüllt - Jacques hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr einen ganzen Schinken für Madame und Wegzehrung für sie selbst mitzugeben.
Dann verabschiedeten sie sich von einander und die Gardistin ließ Hexe antraben. Im Herausreiten hörte sie, wie ein erneuter Hustenanfall den Junker quälte...