Verena hielt an und schaute sich um. Sie war hoch genug im Gebirge gegangen. Der Nebel verdeckte einen Großteil der Landschaft von ihrem Blick, aber sie wusste, wie sie zurückkommen konnte, wenn sie fertig war. Der Ort schien auch passend für ihr Vorhaben: weit weg genug von Städten, Dörfern und Wegen, eine ungestörte, kaum erreichbare Ortschaft im Gebirge. Nur die fernen Geschreien von Krähen waren zu hören.
Sie nahm sich ein Moment Zeit, um die Tatsache zu genießen, dass sie heute zum ersten Mal seit langen Monaten nicht in Schmerzen aufgewacht war und dass der lange Spaziergang überhaupt möglich für ihren schwachen Körper war. Was die Magier auf der Versammlung gemacht hatten, schien gut funktioniert zu haben: der Fluch, der ihre Krankheit auslöste, war erstmals gehemmt und sie hatte ein paar mehr Monaten Zeit. So gesehen hatte sie noch einmal geschummelt und war dem Tod entkommen. Aber dafür konnte sie nichts. Sie trug keine Schuld, dass sie diesen Fluch auf sich hatte und weigerte sich nicht, jegliche Methoden, ihn loszuwerden auszuprobieren, solange diese anderen keine Schäden anrichteten.
Sie zog ein kleines Beutelchen aus ihrer Tasche und ließ den Inhalt auf ihre Hand fallen. Es war ein Ring mit einem blauen Halzedon und silberne Blätter und Zweige, die ihn elegant umschlossen. Drakonias Hochzeitsring.
“Ich weiß nicht wo ich anfangen soll und was ich dir zu sagen habe. Wir haben uns letztendlich nicht gekannt und ich habe das Gefühl, wir hätten uns auch nicht gemocht.“, sagte sie mit emotionslose Stimme. “Ich weiß nicht mal, wie ich dich zu betrachten habe: als meine Vorläuferin oder als meine Mutter. Aber Tatsache ist, ohne dich würde es mich nicht geben. Ohne deinen Tod zumindest.“
Sie dachte an die Leute, denen sie von Drakonias Tod hatte erzählen sollen. Verena fehlte die nötige emotionale Erfahrung um einschätzen zu können wie sich diese Nachricht auf diese Leute ausgewirkt hatte. Sie hoffte jedes Mal nur, dass sie die Stärke haben würde, die Situation trotz den Schuldgefühlen zu erklären.
“Weißt du, ich fühle mich schuldig daran. Das ist immerhin dein Körper und dieses Leben hätte dir gehören sollen. Es spielt keine Rolle, dass du es verworfen hast. Ich glaube, wenn du wüsstest, dass du tatsächlich noch Freunde hattest, die dich vermisst haben, hättest du dir vielleicht anders überlegt, bevor du dein Leben beendet hast. Aber das kann ich nicht ändern. Dir waren die Konsequenzen für deine Tat bewusst und du hast sie vollbracht. Und nun bin ich hier und sterbe an den Fluch, der auf dich ausgelegt war. Du hast mir meinen Zustand vorgeschrieben, aber nicht mein Leben. Nicht meine Wahl. Nicht meinen Weg. Und ich werde deinem Weg ganz sicherlich nicht folgen, aber eins schulde ich dir.“
Die Kälte der vereisten Erde biss in ihre Finger und ließ sie bluten, als sie mit den Händen ein kleines Loch im Boden grub, um den Ring sanft reinzulegen und wieder mit Erde zu verdecken.
“Ich kann deinen Körper nicht in die Erde legen und deine Seele wird nie zu den Göttern gehen, weil sie aus der Existenz gelöscht wurde. Deine Familie hat dir ein leeres Grab eingerichtet, wie es sich für jemanden vom Stand gehört, nicht wegen dir persönlich. Ich begrabe nur die Erinnerung an dich und kann dir und mir selbst so Frieden geben.“
Sie stand wieder auf und schwieg für einige Momente vor dem vergrabenen Ring.
“Es ist meine Pflicht und Verantwortung, deine Erbe zu verwalten. Ich werde über deine Freunde wachen und sie beschützen, und mit deinen Feinden Frieden schließen. Und demjenigen, der dich zu deiner Entscheidung getrieben hat, vergebe ich, denn er verdient nicht, dass ich Emotionen für ihn aufbrauche und meine Seele damit vergifte. So viel schulde ich dir dafür, dass ich zu Existenz gekommen bin.“
Wenn sie überhaupt lange genug leben würde, kreuzte der Gedanke auf. Obwohl der Fluch nun verlangsamt war, würde er sie umbringen, außer man schaffte es, ihn aufzuheben. Aber sie wusste, dass sie nicht alleine war, und dass selbst wenn sie sterben sollte, es Leute geben wird, die sie in ihrer letzten Stunde beiseite stehen und sie trösten würden. In der Akademie zu Rabennest hatte sie eine Familie und auf ihre Reisen Freunde gefunden. Und solange sie noch gehen konnte, solange sie noch atmen konnte, würde sie Seite an Seite mit ihnen stehen, was auch immer entgegen kommen sollte, und alles für sie tun, was sie nur konnte. Aber dieses Moment hatte sie für sich selbst gebraucht, um sich verabschieden zu können, denn nur so konnte sie mit klaren Gedanken weitergehen.
“Ich verbrenne die letzte Brücke und verspreche mir selbst und keinem anderen, dass ich trotzt allen Schwierigkeiten nicht in dieselbe Grube stürzen werde wie du. Jetzt, wo du nur noch eine Erinnerung aus einer anderen Zeit bist, muss ich nicht mehr in dem Schatten deiner Taten kriechen. Ruhe in Frieden.“
…
Nachdem sie weg war, blieb der Ort ungestört und nur der Schneesturm heulte weiter. Wenn jemand da gewesen wäre und sich im Sturm umhören würde, hätte er eine ganz leise, kaum bemerkbare unheimliche Stimme wie die von dem Wächter in der Klinge hören können: Du hast die Wahl. Und jeder, der seinen Verstand nicht verloren hatte, würde sagen, dies sei nur der Wind.