Die Tage vergingen.
Fleur hatte ihrer Tochter ein straffes Programm verpasst. Sie weckte das Mädchen früh und schickte es nach dem ankleiden Wasser holen. Bevor sie frühstücken durfte, musste sie in der Küche helfen. Danach standen Wäsche waschen, flicken, nähen und diverse Handarbeiten auf dem Stundenplan. Nach dem Mittagessen half Amelíe beim Spülen, Abtrocknen und Aufräumen in der Küche. Dann durfte sie etwas Zeit mit Lernen verbringen. Am Abend zeigte Fleur ihr, wie man sich um die Wäschevorräte kümmerte, einen Überblick behielt, was vorhanden war und was gebraucht wurde und wie man aus alten Textilien noch nützliches herstellen konnte.
Oftmals war das Mädchen am Abend so müde, dass es beim Essen kaum das Gähnen unterdrücken konnte, wenn es nicht gar einnickte.
Amelíe versuchte sich zu wehren. Sie bockte, argumentierte und jammerte.
Fleur redete sich und dem Kind ein, es sei zum besten für das Mädchen.
Doch Fakt war, dass Amelíe mit ihrem neuen, straffen Aufgabenplan immer unglücklicher wurde.
Und so betete die Wäschemagd zu Lavinia, ihr ein Zeichen zu senden.
Eines Nachmittags, als Amelíe wieder einmal etwas Zeit hatte, um zu lernen, überraschte sie ihre Mutter.
Plötzlich stand sie vor Fleur, die gerade stickte.
"Mama?", fragte das Mädchen zaghaft.
Fleur blickte von ihrer Arbeit auf und konnte ein kurzes, unwilliges Stirnrunzeln nicht unterdrücken. Amelíe hatte ein dickes Buch an ihre Brust gedrückt. Vermutlich wieder irgendeine irrsinnige Geschichtensammlung über Abenteuer und fabelhafte Wesen...
"Was gibt es, ma chérie?", sagte sie dennoch.
"Mama, hier in dem Buch...", begann Amelíe und schlug eine Seite auf, die sie mit einem ihrer selbstgemachten Lesezeichen markiert hatte.
Das Mädchen zeigte auf eine kunstvolle Abbildung einer Edeldame hoch zu Ross, die einen Greifvogel auf der Faust hatte.
"Meinst du, ich könnte sowas sticken?", fragte es seine Mutter.
Da ging Fleur das Herz auf. Und sie dankte Lavinia für das Zeichen.
Sie legte die Stickarbeit zur Seite und zog ihre Tochter auf ihren Schoß.
Sie sahen sich das Bild gemeinsam an und fachsimpelten über Stiche, Garne und Farben. Da wurde Fleur klar, wieviel ihre Tochter doch gelernt hatte. Und als Amelíe begann, ihr etwas über die Geschichte zu dem Bild zu erzählen und wie sie persönlich die Stickerei, nach ihrem Wissen über Pferde und deren Ausrüstung und über Beizvögel, abändern wollte, traten der Wäschemagd die Tränen in die Augen.
Sie schniefte und Amelíe blickte zu ihr hoch.
"Weinst du etwa, Mama?", fragte sie erstaunt.
"Non, petit Amelíe... Isch... isch bin nur so dankbar.", erwiderte Fleur stockend.
"Dankbar? Wofür?", fragte Amelíe verwundert.
"Für das Erkennön des größtän Geschenks, das Lavinia mir je machön konntä.", sagte Fleur leise.
Amelíe sah sie mit schief gelegtem Kopf an. "Häh? Versteh ich nicht."
Da musste Fleur lächeln. Es war ein bisschen verunglückt, dieses Lächeln, aber es kam aus tiefstem Herzen.
"Du! Du bist das größtä Geschenk, dass mir Lavinia je machön konntö. Und sie 'at mir 'eute erneut gezeigt, wie wundervoll du bist."
Fleur drückte ihre Tochter an sich und küsste sie auf den Kopf und ihre Tochter kuschelte sich in ihren Arm.
Am Abend besprachen sie, wie es weitergehen sollte und einigten sich auf eine etwas gesündere Mischung aus Pflichten und Freiheiten...