Etwa eine Woche nachdem Anders sich von der Wölfin verabschiedet hatte, lag der Foret ruhig und friedlich da. Ab und an rutschte eine Schneemasse von einem Ast und klatschte laut auf dem Boden auf, das Tauwetter hatte das leise Rieseln in Wasserfälle verwandelt, doch sonst passierte hier nicht viel.
Die Sonne war gerade im Begriff hinter den Baumwipfeln zu verschwinden, das beginnende Zwielicht tauchte den schneebedeckten Wald in ein fast geisterhaftes Licht.
Plötzlich wurde die Ruhe durch ein lautes Rascheln gestört.
Ein junges Reh brach durch das Dickicht und überquerte mit großen Sprüngen und hoch erhobenem Kopf eine Lichtung. Knapp hinter ihm am Waldrand tauchte eine mit Fellen bekleidete Gestalt auf und knurrte frustriert.
Die Wölfin blieb schwer atmend unter den letzten Bäumen stehen und beobachtete, wie das Reh mit langen Sätzen am gegenüberliegenden Waldrand verschwand. Es war sinnlos, es weiter zu verfolgen, auf einer Ebene ohne Hindernisse hatte sie absolut keine Chance, das behende Tier einzuholen.
Die Beute war entkommen, aber wie alle Wölfe es taten beschäftigte sie sich nicht lange mit einem Misserfolg. Und als das Reh zwischen den Bäumen verschwunden war, war es auch schon vergessen.
Die Wölfin setzte ihren abendlichen Rundgang durch den Wald fort, bis sie an einen Felsen kam, der über ein kleines Tal in den Himmel ragte. Sie kletterte hinauf und trat an die über die Baumwipfel ragenden Felsenspitze.
Im fahlen Zwielicht war ihre Silhouette deutlich gegen den immer dunkler werdenden Himmel zu erkennen.
Die Sonne schickte einen letzten hellen Strahl über den Wald, der die Baumwipfel streifte, dann war sie verschwunden.
Die Wölfin schloss die Augen und genoss die Stille, sie atmete ruhig und gleichmäßig, stand bewegungslos da, keinen Laut von sich gebend.
Und in diesem Augenblick spürte sie es.
Kurz war es ihr als wäre sie nicht mehr alleine auf dem Felsen.
Als hätte sich jemand zu ihr gesellt.
Die Verbindung war wie eine leichte Berührung. Wie ein dünner Faden, der in der klirrend kalten Winterluft vibrierte.
Aber hier im nahezu geräuschlosen Zwielicht, in der kurzen Phase zwischen Tag und Nacht, war sie deutlich spürbar.
Die Wölfin geriet ins Taumeln und sank auf ein Knie, um nicht umzukippen. Ihre Augen starrten ins Nichts, während das Verstehen sich langsam einen Weg in die Tiefen ihres Verstandes suchte.
Sie wusste nicht, ob Maugrim sich die Eigenart der askarischen Seelen, die auch nach dem Tod bei ihrem Rudel blieben, zu eigen gemacht hatte oder ob es der Wille von Tormentor, Askar, Tior….oder allen dreien auf einmal war.
Aber das Seelenband, geknüpft durch die drei Wolfsgötter, war beim Tod ihres Seelenbruders nicht zerrissen.
Maugrim Wolfsfang, Priester Tormentors, war gestorben.
...doch der Bär hatte das Rudel nicht verlassen.
Die Wölfin blinzelte ein paar Mal, als wenn sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht wäre. Wie automatisch ging ihr Griff zu dem Mithrilfläschchen, dass sie an einem Lederband um den Hals trug.
Das Fläschchen war nicht ihr eigenes...
Dann stieß sie sich von dem Felsen ab, stand auf, warf den Kopf in den Nacken und schickte ein lautes Heulen in die Nacht hinaus.
Und es klang bei Weitem nicht mehr so verloren und wehklagend wie in den letzten Wochen.
Am nächsten Tag nahm Sasha das erste Mal wieder Kontakt mit ihren schattenhaften Wächtern Svenja und Destus auf.