Tagein, tagaus, derselbe Tagesablauf. Aufstehen, Frühsport, Liegestütze, laufen gehen, Frühstücken, danach nackt im Fluss baden und den Staub des Vormittags abwaschen.
Dann ewige Gespräche mit Jacques, dem Diener Lorainnes, zunehmend mehr auf caldrisch als in der gemeinen Sprache. Er brachte dem jungen Knappen nicht nur die alltägliche Sprache bei, er versuchte auch, ihm Sachen wie Lyrik nahe zu bringen, schien jedoch jeden Tag ein wenig verzweifelter zu werden ob des "schräcklischen Unverständniss" des "tangarianischen Pöbels".
Darauf folgte ein nahrhaftes Mittagessen, nach welchem Vanion jedoch dennoch stets Hunger zu haben schien. Dann, am Nachmittag, ungeachtet des Wetters, Übungen am Schwert, auch mit Jacques. Der kleine Caldrier hatte sich als gewiefter, teilweise sogar hinterhältiger Kämpfer erwiesen. "Je suis un kleinär Mann, also trettte isch dir eben deine Männlischkeit zu Brei, wenn isch grade an deine schöne Knabengesischt nischt drankomme. Schlachten sind so!". Vanion gewann selten, aber es dauerte immer länger, bis er auf eine meist mehr oder weniger schmerzhafte Art verlor.
Abends ging es dann ans Lesen - Lorainne hatte beschlossen, dem Jungen vom Lande nicht nur ein paar mehr Muskeln zu verschaffen, sondern auch seinen Charakter mit Bildung zu beglücken.
Das Dorf, in dem Jacques und Vanion waren, war zu klein, um eine ordentliche Kneipe zu bieten - nur eine kleine Herberge, wenn man denn drei teure Zimmer mit sauberen Strohbetten so nennen konnte, bot Gelegenheit, neue Leute kennen zu lernen - wenn nicht ständig zwei der drei Betten von Jacques und Vanion belegt gewesen wären.
Mit dem Schmiedejungen hatte sich Vanion einige Raufereien gegönnt - bis Jacques dazwischen gefahren war. "Das ge'örrt sich einfach nischt! Prügel disch nischt zum Spaß! Du bist jetzt etwas Besseres als dieser Kerl! Ver'alte disch dementspreschend!"
Es war nicht einfach, von jemandem, der grade mal zwei Jahre älter war, sich so etwas anhören zu müssen, zumal Vanion es nicht grade gewohnt war, Sachen zu schlucken und stillschweigend zu lernen. Dazu noch dieser schreckliche Akzent! Doch je besser Vanion caldrisch sprechen konnte, desto leichter fiel ihm das gehorchen. Oftmals fluchte er bei ihren Übungsstunden überwiegend auf caldrisch, immer seltener in seiner Geburtssprache.
Am Abend eines dieser ewig gleichbleibenden Tage lag Vanion auf dem Rücken auf seinem Bett. Jacques Bett war leer, er war unten und sah nach den Pferden.
Vanion starrte die Holzdecke des Raumes an und verlor sich ein wenig in seinen Gedanken. Lorainne, was machst du grade eigentlich?, oder Was wird aus mir hier im Nirgendwo?, Wie geht es meinen Eltern, meinen Freunden?, waren nur einige seiner Gedankengänge. Er dachte an Laura, an die Ereignisse in Bourvis, an die Begegnungen in Simons Vorstellungsvermögen. Jeden Abend dachte er sich quer durch sein Leben und die Weltgeschichte, und jeden Abend verstand er sich selbst und die Welt ein bisschen besser. Entscheidungen schienen plötzlich Sinn zu machen, selbst seine eigenen. Auch Lorainnes Entscheidungen waren nachvollziehbar geworden, vieles hatte sich zusammen gefügt. Ein Weg hatte sich abgezeichnet, vom trinkfesten Knaben über den Suffkopf, der gern mit Marius sang bis hin zu dem entschlossenen Widerstandskämpfer, zu dem er im Pilgerzug geworden war. Lorainnes Ritterschlag vor den Mauern Engoniens, Vanions eigene Aufnahme in den Knappenstand - sein peinliches Versagen in Simons stupidem Sturkopf, das Loslassen dieses dämlichen Steins, Jelenas leiser werdende Stimme - und die sich langsam schließende Türe, hinter der Lauras Kind verschwand. Auch am Abgrund zu stehen wird manchmal normal, dachte Vanion ohne Selbstmitleid oder Pathos. Er hatte dort gestanden und war entschlossen drei Schritte zurückgewichen. Jetzt galt es, nach vorne zu blicken, und jeden langweiligen, routinierten Tag des Trainings zu genießen.
Schritte, die die Treppe heraufkamen, rissen Vanion aus seinen Gedanken. Jacques betrat den Raum, einen Brief in der Hand haltend und mit der anderen Hand wild gestikulierend, während er lautstark und schnell auf einen weiteren Mann, der hinter ihm die Treppe hochkam, einredete. "Vous ne pouvez pas faire ca! C'est impossible! Imbecile! La chevalière a commander qu'il ne peut pas quitter la village!" Der andere redete leiser und bediente sich nicht des Caldrischen. Nur ein Hauch nordcaldrischen Akzents war aus seiner Stimme zu hören. "Nun gebt ihm den Brief, er ist an ihn adressiert! Lass ihn zumindest lesen, alles andere könnt ihr dann unter euch vereinbaren!" Kurzerhand stand Vanion auf und nahm Jacques mit Nachdruck den Brief aus der Hand.
Verehrter Freund,
wir haben eine Möglichkeit gefunden, Wassilij aus Szivars Reich zurück zu holen. Wir bitten dich nun um seinetwillen um Hilfe. Der Herr der Schatten wird ihn nicht freiwillig gehen lassen und wir brauchen all seine Freunde für dieses Unterfangen!
Gruss,
Galoria Lydia
Gorix Feuerklinge
Sofort traf ihn Jacques wütender Blick. "Lorainne beschteht darauf, euch 'ier zu be'alten! 'Ier seid Ihr in Sischer'eit und könnt lernen und ein wenig Rü'e finden! Denkt nischt einmal daran! Ihr 'abt jetzt Pflischten!"