Vanion nutzte die Gelegenheit, sich zurückzuziehen. In seinem Inneren kämpften Entschlossenheit und seine Treue zu Lorainne gegen den Drang an, fortzulaufen. Er drehte sich im Kreis: Savaric war ein Verbrecher, Mörder, Entführer, er hatte jede Strafe verdient. Doch er war auch sein Onkel, und ihn zu töten hieße, sich des Sippenmordes schuldig zu machen. Was war das für ein Mann, der seinen eigenen Onkel erschlug? Was war das für ein Mann, der seine Chevalière im Stich ließ? Hilflose Wut erfüllte ihn, als er durch die Gänge des Stadthauses schritt, ohne ein wirkliches Ziel zu haben. Seine Schritte führten ihn heraus, auf die Straße, und schließlich endete er im Trubel des Vorplatzes des Laviniatempels.
Beten? War das die Lösung? Unwillig schnaubte er. Ein paar Passanten sahen ihn neugierig an, und als er das bemerkte, stellte er sich ein wenig abseits der Menge. Kurzerhand wandte er dem Tempel den Rücken zu. So viele Gebete zu Lavinia hatten nicht geholfen, seine Misere zu lösen, was sollte ein weiteres Gebet nun ändern?
Weiter ging es durch die Straßen und Gassen Donnerheims, bis er sich in einer der heruntergekommeneren Gegenden wiederfand. Ein Schild wies auf eine Taverne hin, doch Vanion hastete an der Tür vorbei, ohne einen zweiten Gedanken ans Trinken zu verschwenden.
Schließlich betrat er einen kleinen Park, voll mit Büschen und Bäumen, nahe den Stadtmauern. Dort kam er zur Ruhe. Nüchtern fragte er sich, weshalb ihm diese Entscheidung so schwer fiel, doch die Antwort wollte ihm nicht gefallen. Es gab drei Familien in seinem Leben. Die seiner Eltern - tangaranische Bauern. Diejenige, mit der er so viel Zeit verbracht hatte, so vieles erlebt hatte, Gutes wie Schlechtes - Lorainne und die ihren. Und dann gab es die Familie, deren Namen er nun trug, der er eindeutig zugehörig war. Roquefort. Der Bauer in ihm war längst entwurzelt worden und hatte keinen Platz mehr gefunden, um weiter zu wachsen. Statt dessen war er auf dem besten Weg gewesen, ein Ritter zu werden, und hatte sich Lorainne anvertraut. Und dann - dann haben sie dieses verfluchte Dokument gefunden, was meine Abstammung beweist! Die Roqueforts waren nicht seine Familie, sie waren es nie gewesen. Niemand aus diesem Geschlecht hatte sich je für seine Sorgen und Nöte, für Freude und Erfolge interessiert. Und doch war Vanion ein Roquefort. Ein Familienmitglied zu sein, bedeutete mehr, als nur den Namen zu tragen. Ich habe den Anspruch meines Vaters, doch auch die Pflichten, die damit einhergehen! Und ist nicht eine der höchsten Pflichten, die man haben kann, treu zur eigenen Familie zu stehen? Wo wäre Lorainne jetzt, wenn nicht ihr Vater treu zu La Follye, zu seinen Kindern gestanden hätte? Sie wäre im Forêt d'Artroux gestorben. Mit welchem Recht urteile ich über meinen Onkel?
Vanion verspürte plötzlich das starke Gefühl, Savaric helfen zu müssen. Gewiss war er nicht abgrundtief böse - vielleicht, vielleicht hatte er sich einfach mit etwas eingelassen, was zu groß für ihn war? Vielleicht hatte er keine Kontrolle mehr über das, was er heraufbeschworen hatte, und war eingesponnen im eigenen Netz. Lorainne hatte selbst zugegeben, dass niemand mehr genau wusste, was die Fehde zwischen Roquefort und La Follye heraufbeschworen hatte. Aber wie, bei allen Göttern aller Welten, selbst wenn ich es wirklich wollte, wie könnte ich Savaric helfen? Ich habe Lorainne immer und immer wieder geschworen, ihr beizustehen, und sie im Stich zu lassen bedeutet nichts anderes, als wie ein feiger Hund in eine Ecke zu kriechen. Er war ein Knappe, verflucht! Er hatte Pflichten, und diese Pflichten würde er erfüllen. Heul nicht rum, Idiot, schalt er sich selbst.