Eine betretene Stille erfüllte den Raum. Die Gestalt der Mutter Oberin in der Tür hatte einen Mantel der Ruhe über die Gesellschaft ausgebreitet, doch darunter schien es zu brodeln. Nun, da Benjen den Raum verlassen hatte, sah Vanion keinen Bedarf mehr, die Form zu wahren.
"Lorainne, ich werde mit ihm sprechen. Der Chevalier de Kyme scheint von Zweifeln und Angst erfüllt zu sein. Ich habe selbst eine Zeit durchgemacht, in der es mir schwerfiel, Hoffnung zu fassen." Eine wirkliche Reaktion zeigte Lorainne nicht. Der Knappe beugte sich zu Anders hinüber und bat sie leise, sich um Lorainne zu kümmern. Sie wirkte unglaublich fragil, verletzt.
Dann verließ er schnellen Schrittes den Saal, nicht ohne der Mutter Oberin mit einer Verbeugung die Ehre zu erweisen.
Er hatte so eine Ahnung, wo er Benjen finden würde.
Tatsächlich fand er den Ritter an Marguerites Grab knien. Wortlos schnitt Vanion eine grade erblühte Narzisse aus einem nahen Beet, dann legte er diese auf das Grab und sprach ein leises Gebet für Lorainnes Schwester. Die Stille zwischen den beiden Männern war angespannt, fast aggressiv. Benjen war verletzlich, ein Mann, der vieles verloren hatte und, als er zurückgekehrt war, nicht das gefunden hatte, was er gesucht hatte. Unendlich langsam stand Vanion auf, dann bot er Benjen die Hand an.
"Die dunkelste Stunde ist die Stunde vor dem Morgengrauen, Chevalier Benjen. Hier liegt Marguerite de la Follye begraben, und sie lächelt aus Lavinias Armen auf Euch herab. Allein Eure Trauer kann sie nicht zurückholen, keine Macht von dieser Welt kann das. Und doch endet mit ihrem Leben nicht das Eure. Aus Eurem Leid soll Hoffnung erwachsen, keine Verzweiflung. Verwahrt die kostbare Erinnerung an Eure Liebe in Eurem Herzen, doch lasst nicht zu, dass der Verlust Euer Herz verfaulen lässt.
Mir scheint, Ihr seid durch Szivars Hölle gegangen, allein um hierher zurückzukehren und Eure Hoffnung in Trümmern zu sehen. Doch das ist sie nicht! In Lorainne lebt Marguerite fort. Ihr wart der Knappe ihres Vaters, ihr habt dem Hause La Follye die Treue gelobt. Lasst nun nicht alles fahren. Chevalière Lorainne ist ein wahrer Ritter, größer und großherziger als so mancher. Bei all dem Leid, dass Ihr erlitten habt, dürft Ihr nicht vergessen, dass Lorainne ebenso unter den Händen Savarics, meines dreifach verfluchten Onkels, gelitten hat. Sie wurde entführt und gefoltert. Als wir - als wir sie fanden, sie retteten, da war sie gebrochen. Ein einfacher Satz war alles, was von ihren Lippen kam: 'Ja, ich will.' Immer und immer wieder sagte sie das. Ich bitte Euch, Chevalier Benjen de Kyme, werft nicht Euren Kummer gegen Lorainnes Kummer in die Waagschale. Ihr vertraut Lorainne, und sie vertraut Euch. Lernt die Männer der Chevalière kennen, und urteilt erst dann.
Noch sind Worte allein Worte. Kein Magier wird Lorainne gegen ihren Willen untersuchen können, erst Recht nicht aufgrund eines unbegründeten Verdachtmomentes. Mademoiselle wird das zu verhindern wissen, und ich werde ihr dabei helfen. Habt keine Furcht! Verzagt nicht. Momentan mag der Welten Last Euch erdrücken und niederschlagen, doch Ihr müsst nichts allein tragen. Wir sind - bei den Göttern, wir sind eine Familie. Nicht durch Blut, doch durch Taten."