Sie kann nicht schwimmen! Die Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Blitz. Und niemand hatte die kleine Szene mitbekommen - außer ihm.
"Hilfe! Sie kann nicht schwimmen!" Dummerweise konnte er das ebensowenig. Und seine Robe - wie kannst du nur jetzt an deine Robe denken?!
So schnell er nur konnte, rannte er den Pier entlang, dabei laut nach Hilfe rufend und mit den Armen wedelnd. Sofort rannten ein, zwei Männer herbei, und ein dritter zögerte gar nicht erst sondern sprang, so wie er war, ins Wasser.
Als man Adara mit vereinten Kräften aus dem Wasser gezogen hatte, war das Schiff mitsamt seinem verbrecherischen Kapitän bereits weit draußen im Hafenbecken, und Rikhard wurde klar, dass es keine Konsequenzen geben würde.
Etwas hilflos stand er über den Männern, die der bewusstlosen Frau das Wasser aus der Lunge pressten, und mit großer Erleichterung nahm er wahr, dass ihre Brust sich langsam hob und senkte - sie atmete.
Seine Schuldigkeit war also getan, und schon raffte er seine Robe und schickte sich an, zu gehen, als ihn einer der plitschnassen Männer ansprach. "Verzeiht, Herr Magier, aber gehört diese Frau zu Euch?"
"Nein, sie gehört nicht zu mir." Dann drehte er sich um - und dann drehte er sich erneut um. "Äh, doch, natürlich tut sie das. Freund Seemann, wo finde ich ein gutes Gasthaus, das mich und meine, äh, Begleiterin aufnimmt?"
Wenn seine Antwort den Matrosen verwirrt hatte, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er begann, Rikhard den Weg zu einem Handelshof in der Oberstadt zu beschreiben, und als er bemerkte, dass die Beschreibung Rikhard nicht wirklich helfen würde, bot er sich kurzerhand an, ihn zu begleiten. Dankend nahm Rikhard dieses Angebot an, und der Mann hob die bewusstlose Adara kurzerhand in seine starken Arme.
Der Handelshof war eine Mischung aus einem Kontor, in dem allerlei Seewaren umgeschlagen wurden, und einem Gasthof, in dem vor allem besser situierte Händler abstiegen. Unwillkürlich musste Rikhard an Runa denken - ihre Eltern würden wahrscheinlich genau in einem solchen Haus absteigen. Fragen über Adaras Zustand hatte Rikhard kurzerhand mit einem arroganten Satz in Richtung "Das geht Euch nichts an" abgewehrt, und während er eine Kammer mit zwei Betten bezahlte, brachte Rorik, sein Helfer, Adara bereits hoch.
Und nun saß er in einer angenehm eingerichteten Kammer auf einem kleinen Stuhl, den er an Adaras Bett herangezogen hatte, und wischte dem Mädchen sorgfältig das letzte Wasser aus dem Gesicht. Eine Schankmaid hatte ihm geholfen, sie auszuziehen, und so gut es ging, hatten sie Adara in einen weichen Mantel gehüllt. Adara hatte wunderbar weiche, weiße Haut, und Rikhard hatte schamerfüllt den Blick abgewendet, als die Schankmaid gewisse intime Bereiche enthüllt hatte.
Als sie die Augen aufschlug, rückte Rikhard den Stuhl ein wenig weiter weg vom Bett.
Nicht, dass sie wieder denkt, ich wolle ihre Dienste in Anspruch nehmen!
"Was... was ist geschehen? Wo bin ich?"
Und Rikhard erzählte, was geschehen war. Adaras Gesichtsausdruck blieb leer, emotionslos. Sie war viel zu erschöpft, um noch etwas zu empfinden, und nahm einfach hin, was er ihr erzählte.
"...und dann sind einige Männer ins Wasser gesprungen und haben dich gerettet. Du kannst nämlich offensichtlich nicht schwimmen."
Gespannt wartete er auf eine Antwort, aber die junge Frau war friedlich eingeschlafen.
Adara schlief in dieser Nacht so gut wie lange nicht. Die Erschöpfung tat einiges dazu, aber auch die Tatsache, dass sie seit langer Zeit nicht mehr in einem sauberen, weichen Bett geschlafen hatte, vertiefte ihren Schlaf. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie erstaunt fest, dass Rikhard nach wie vor auf diesem Stuhl vor ihrem Bett saß.
Rikhard hatte kein Auge zugetan. Er war sitzen geblieben, und dunkle Ränder unter seinen Augen bezeugten die lange Nacht, die er hinter sich hatte.
Er hatte die Ereignisse auf der Insel der Stürme Revue passieren lassen. Der tote Seemann, das Bier, das ihm zu Kopf gestiegen war, und dieser verfluchte Schreiberling, der sich so fleißig alles aufgeschrieben hatte, was er getan hatte. Die Tage und Nächte zur See, und die Blessuren, die Adara davon getragen hatte. Er vermutete, dass der Kapitän mit ihr hatte schlafen wollen, und sie sich gewehrt hatte - oder dass der Kapitän einfach nur ein schlimmer, gewalttätiger Mann war, der aus purem Spaß zugeschlagen hatte.
Und dann hatte Rikhard versucht, seine eigenen Motive zu hinterfragen. Nähe war ihm ein Graus, und dass Adara ihm ihre Geschichte erzählt hatte, hatte Nähe erzeugt. Sie war verzweifelt, wusste nicht, wohin, und nun war sie hier in Stejark gestrandet. Was hatte ihn dazu gebracht, zu behaupten, sie würde mit ihm reisen? Weshalb zahlte er nun für ihr Bett und ihr Essen? In dieser Welt galt das Recht des Stärkeren, und darum setzte er alles daran, mächtiger zu werden. Aber nun hatte er selbst Nachteile in Kauf genommen, für - für - ja, für was? Mildtätigkeit, Nächstenliebe und Mitleid - das lag ihm nicht.
Nichtsdestotrotz bezahlte er für Adaras Frühstück. Dann gönnte er sich selbst ein paar Stunden Schlaf, bezahlte eine weitere Nacht und ein weiteres Frühstück, und über die ganze Zeit schwieg er. Adara ebenso. Die beiden waren auf eine Art verwandte Seelen: beide hatten verbrannte Erde hinter sich. Beide waren vor die Wand gelaufen mit ihrer Art, der verbrannten Erde zu entkommen. Nur hatte Adara irgendwann erkannt, dass ihr Leben vor die Hunde ging, während Rikhard bis heute nicht ganz verstanden hatte, dass ein Weg ohne Freunde, ohne Nähe, kein Weg war, den man ohne Schmerzen und ohne Opfer zu Ende gehen konnte.
Vielleicht kam es daher, dass Rikhard Adara anbot, ihn nach Fanada zu begleiten. Sie nahm das Angebot an, und nachdem sie mit Rikhards Geld etwas Reisekleidung erstanden hatte, verließen die beiden Stejark recht bald, in Richtung Süden.