Später saß Vanion in einer kleinen Laube etwas außerhalb seines Hofes. Lorainnes Worte hatten ihm zu denken gegeben, wie so Vieles in der letzten Zeit. Es schien fast so, als hätten die Götter ihn vor ein Rätsel gestellt. Nur, was war des Rätsels Lösung? Auf der einen Seite wusste er, dass er das Zeug zum Ritter hatte. Auf der anderen Seite war ihm der Weg nach Caldrien ein für alle mal verschlossen. Mit mächtigen Widersachern wie der Baronin von Goldbach war nicht daran zu denken, in die Dienste eines Caldriers zu treten. Die Baronin selbst würde ihn hängen lassen, wenn er Goldbach betreten würde, da war er sich sicher. Doch Lorainne hatte von Middenfelz gesprochen, von Hahnekamp. Ersteres hatte einen bitteren Beigeschmack. In Middenfelz gab es Ritter, ja, doch Viele hatten im Lupus Umbra gedient, dem alten Feind Engoniens. Und Hahnekamp hieße, auf gut Glück in eine unbekannte Welt vorzustoßen. Dort würde man ihn verlachen, wenn er von seiner Geburt und seinem Werdegang erzählen würde.
Fast fünf Jahre. So lange war es her, dass Engonias Mauern gefallen waren. Vor fünf Jahren hatte Vanions Reise begonnen, und der Weg hatte sich als ein Kreis herausgestellt. Aber Kreise konnte man durchbrechen! Das hatte er bereits getan. Zunächst, als Marius fortgegangen war und er sein Leben als Trinker und Tunichtgut beendet hatte. Dann, als er im Krieg an seine Grenzen stieß. Er erinnerte sich noch an ein Gespräch mit Kassos, nur wenige Tagesmärsche vor Engonia, als er über seine Angst, zu sterben, gesprochen hatte. Doch auch das hatte er verwunden, den Selbstzweifel besiegt. Dann die Zeit mit Lorainne, die zwei langen Jahre im Dienste der Priester Alamars. Auch hier war es hoffnungslos gewesen, und auch hier hatte er gesiegt!
"Willst du das alles wirklich wegwerfen?", murmelte er leise. "Willst du das aufgeben?" Er seufzte, dann hob er den Blick. Die Blätter der Haselsträucher, die die Laube bildeten, hatten sich schon gelb gefärbt, und der Nachmittagsregen hatte dicke Tropfen auf ihnen hinterlassen. So fühlte er sich auch: ausgebrannt, erschöpft. Er sah auf seine Hände, die furchig, vernarbt waren.
Doch nach dem Herbst folgt der Winter, und danach ein neuer, frischer, hoffnungsvoller Frühling.
Vielleicht war sein Leben grade wie die Jahreszeiten. Es ging auf den Winter zu, Altes starb. Doch der Winter würde das neue Leben nicht ersticken, nein, sondern würde es behüten, sodass im Frühling endlich aufs Neue die Pflanzen erblühen könnten.
Vanions Herbst war angebrochen. Das Ende der Knappenzeit bei Lorainne hatte er gebracht, den Tod seines Onkels hatte er gebracht, und sein altes Leben hatte er zertrümmert. Doch er war immer noch ein Roquefort! Vanion de Roquefort! Lorainne hatte La Follye zurückgewonnen, aber es war nur für ihre Kinder und für ihre Familie gewonnen und nicht für sie. Vanion hatte gar nichts gewonnen, außer der Gewissheit, mit seiner Rückkehr das Richtige getan zu haben.
Also warum nun aufhören? Warum versteckst du dich hier, wenn du vor wenigen Wochen erst von hier aufgebrochen bist?
Lorainne hatte Recht. Es gab nicht nur caldrische Ritter. Ein Ritter definierte sich nicht über sein Lehen, und ein wahrer Ritter war man nicht, weil man einen verbrieften Adelsbrief hatte. Und seit Westmynd wusste Vanion, dass man selbst diesen kaufen konnte. Die Götter hatten ihn dazu bestimmt, Ritter zu werden, den Idealen dieses Standes zu folgen. Und Vanion wusste nun, dass er dies auch wollte: nicht nur selbstlos sein und Ritterliches tun, sondern auch die Anerkennung, den Respekt, der diesem Stand entgegen gebracht wurde. Denn das war das Einzige, was ein Ritter erhoffen konnte: Ruhm zu erlangen, Teil einer Geschichte zu werden, indem er selbstlos handelte und sich aufopferte. Vanion war Teil der Geschichte Lorainnes gewesen. Er hatte sich stets zurückgestellt, und die einzige Entscheidung, von der die Menschen nun redeten, war eine falsche gewesen. Diese Kerbe galt es, auszuwetzen.
Ich werde wieder als Knappe dienen. Nur.. welchem Ritter? Dann erinnerte er sich an einen Brief, den Lyra ihm geschickt hatte. Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Das wird eine harte Zeit werden. Eine harte, aber gerechte Zeit. Und wahrscheinlich unkomplizierter...