Berengar sah die Oberin kurz schweigend an, dann sagte er sehr ruhig "Da Ihr mich darauf ansprecht, will ich Euch den Grund versuchen zu erklären. Ich stamme aus einer Gegend, die Eure Götter nicht kennt. Die Lehren eurer Götter sind dort jedoch zum Teil bekannt, je nach Gottheit und Apsekt aber in abgewandelter Form, oder vermischt mit anderen Aspekten. Daher wirkt viel von dem, was die Götter der Lande, die einst das engonische Kaiserreich bildeten, lehren und fordern für mich fremd, teils unsinnig oder gar verachtenswert. Doch ich bemühe mich, zu lernen und zu verstehen. Nur durch Verständnis kann aufrichtige Achtung entstehen. Wahrscheinlich muss ich einfach noch vieles lernen, doch habe ich für das, was in diesen Mauern mit Lorainne geschah, derzeit weder Verständnis, noch Achtung noch Billigung übrig."
Kurz hielt er inne und versuchte das Gesicht der Oberin zu ergründen. Und bevor sie zu einer Erwiderung ansetzen konnte, hatte er sich so weit gefasst, dass er mit Ruhe und Zurückhaltung weiter sprechen konnte. "Lorainne hat in der Vergangenheit offenbar Dinge getan, für die sie sich berufen fühlte, oder für die sie den Befehl erhielt, dem Lilienorden für eine begrenzte Zeit beizutreten. Um Buße zu tun, wie sie sagte. Ich wurde dahingehend aufgeklärt, dass der Lilienorden für seine Bereitschaft, Blut zu vergießen im Namen Lavinias, von den übrigen Gläubigen Misstrauen und Verachtung erfährt. Und doch wurde ich in der Vergangenheit Zeuge, wie ein Mitglied der Kirche Lavinias von nicht unerheblichem Einfluss zum Töten aufrief, da es den Ihren selbst verboten sei."
Seine Stimme bebte inzwischen vor mühsam unterdrückter Wut. Als er es bemerkte bat er Rondra im Stilen um Vergebung und atmete einmal tief durch. "Sie vergoss im Namen Lavinias Blut, schützte das Leben von Schwächeren, und als ich sie das nächste Mal antraf, hatte sie zur Buße ein Schweigegelübte abgelegt. Wie sie uns wissen ließ, zur Strafe für ihre Sünden. Erneut focht sie ehrenhaft, für eine gute Sache gegen die Kreaturen des Lichs Atos in der Gegend von Graufelden, welches einst am Rande des Waldes von Arden lag, und nun nicht mehr ist. Und wieder trennten sich unsere Wege. Und sie ging für uns, die wir ihre Freunde, Familie und Bundesgenossen sind, verloren weil sie zur Strafe für den Bruch ihres Schweigens hier in den Kerker geworfen wurde. Keiner meiner Briefe hat sie je erreicht. Als sie wieder zu uns zurück kam, dachte sie, kaum jemand hätte versucht sie zu finden."
Ohne es zu merken war er aufgestanden und als es ihm nun bewusst wurde, schwieg er augenblicklich, als habe man ihn mit Schweigen geschlagen. Schwer atmend setzte er sich, doch ließ er die Oberin erneut nicht zu Wort kommen. "Bevor sie zum Orden kam, standen andere, die über unser sterbliches Dasein verfügen konnten, kurz davor, Verhandlungen über eine Eheschließung zu beginnen. Sie war damals bereits Mutter. Sie wurde ihrer Tochter genommen, sie wurde ihren Lehensleuten genommen... Sie wurde mir genommen. Alles wofür Lavinia steht, wenn es um Familie geht, wurde vernichtet, für angeblich ungehöriges Verhalten und das Beharren auf Eiden und der Wahrung der Form..."
Er beugte sich leicht vor, so dass sein Gesicht im Mondschein gut für die Andere zu sehen war, und sagte sehr ruhig und schneidend "Belassen wir es dabei, dass ich nur hier bin, um dafür Sorge zu tragen, dass Lorainne de la Follye des Jours dieses Mal mit Anstand und Achtung behandelt wird, so lange sie sich in Blanchefleur aufhält. Alles Weitere bedarf keiner Erörterung."