Verschmitzt lächelte Vanion Lorainne an. "Ich würde mir nie anmaßen, über deine Taten zu urteilen." Dass Lorainnes Worte genauso bedeuteten, dass sie nicht nur irgendjemanden, sondern auch ihn notfalls opfern und sterben lassen würde, kam Vanion nicht in den Sinn. Eine gewisse Naivität zeichnete ihn immer noch aus, und die vermeintliche Unverwundbarkeit seines Alters: er, der grade in der Blütezeit seines Lebens stand, konnte gewiss nicht getötet werden.
Er würde nicht vergessen, dass die Jahre in Lorainnes Diensten ihn völlig verändert hatten. Der Knabe, der vor dem Pilgerzug gesoffen und gelungert hatte, der war längst fort. Doch auch der Knecht des Pilgerzuges, der dereinst beschloss, für eine obskure Idee des Guten und Richtigen zu kämpfen, war fort. Lorainnes Entführung hatte Vanion reifen lassen. Er hatte anführen müssen, Entscheidungen treffen müssen. Von diesem Stand war er nach Lorainnes Rettung dann wieder zum Diener geworden, zum Schüler. Eben zum Knappen. Mochte Lorainne glauben, dass sie ihm ihr Leben verdankte - Vanion wusste nur zu genau, dass er allein niemals erfolgreich gewesen wäre.
Er hatte lediglich um Hilfe gerufen, laut und lange, und die Götter hatten ihn erhört. Schuldbewusstsein erfüllte ihn, als er realisierte, dass er den Göttern nie dafür gedankt hatte. Er verstand Lorainne nur zu gut. Handeln, wenn man dazu gezwungen war, war erstaunlich einfach. Führen, wenn es nicht anders ging, Halt geben, wo jemand drohte, zu ertrinken, war einfach. Selbst der schwächste Krüppel der Welt würde um sein Leben kämpfen, wenn er mit dem Rücken zu Wand stand. Aber wenn er die Wahl hatte zwischen einem Kampf und einem weichen Bett und einem Leben in Geborgenheit.. Nein. So ist es nicht. Diese Gedanken mochten für Vanion gelten, doch er war sich ziemlich sicher, dass es sich bei Lorainne nicht so verhielt.
Seine Gedanken ließen ihn schweigen, doch nach und nach zeichnete sich ein ganz anderer Gedanke ab, und diesen sprach er aus:
"Du bist die Letzte. Außer dir ist niemand mehr übrig. Du musst Benjen Halt geben! Es ist deine Pflicht als Dame von La Follye, deine Pflicht als Ritter, und deine Pflicht als Tochter deines Vaters. Loyalität und Treue ist nichts Einseitiges! Der Eid, den Benjen deiner Familie schwor, nahm genauso deine Familie in die Pflicht. Du wolltest immer die Taten eines Mannes tun, und nun musst du das tun, was dein Vater hätte tun müssen. Benjen ist einer deiner Vasallen, egal, was du für ihn empfindest oder er für dich. So, wie die Menschen deines Lehens dir dienen, so dienst du am Ende ihnen! Und grade Benjen hat Besseres verdient, als von einer vermeintlich schwachen Frau zurückgewiesen zu werden, nur weil diese Frau an sich selbst zweifelt - oder was immer du für Gründe hast, anzunehmen, dass du Benjen keinen Halt geben kannst!"
Er war nicht wütend auf Lorainne, aber an eines musste sie erinnert werden:
"Das, was ich für dich getan habe, was all die anderen für dich getan haben, haben sie nicht für La Follye getan! Sie taten es für dich! Benjen ist einer der wenigen abseits der Männer deines Vaters, die für La Follye einstehen! Selbst Ulric sprach davon, dass er nicht mehr nur des Geldes wegen gegen Savaric kämpft, sondern auch, weil es ..etwas Persönliches geworden ist. Du hast eine Schuld gegenüber Benjen, geerbt von deinem Vater, so wie du La Follye von deinem Vater geerbt hast. Das mag dir nicht gefallen - aber du kannst nicht fortlaufen." Und du willst auch nicht fortlaufen.