Berengar grüßte jeden der zu ihm stieß mit einer in seinen Augen angebrachten Geste. Der Waibel und die Gardisten grüßte er ebenso wie Lorainne mit der geballten Schwerthand vor dem Herzen, Isabeau und Klara mit einem demonstrativ in Trauer gesenkten Blick und einer Verbeugung, die Waffentragenden aus Lichttal mit einer Geste, als würde er den Gesichtsschild eines Helmes von den Augen fern halten. Einer der niederen Ränge, noch fast ein Bursche, zeigte ihm eine Flasche und einen Zinnbecher, die er mitgebracht hatte, und Berengar nickte. Die junge Dame, die ihm Isabeaus Nachricht überbracht hatte, ging ihnen voran, denn die Lichttaler wussten sich nicht gut genug zurecht um die Kapelle zu finden. Bevor er sie betrat, legte Berengar das Wehrgehänge ab, und betrat das Heiligtum des Hauses unbewaffnet und mit gesenktem Haupt.
Als alle, die mit ihm gekommen waren, sich eingefunden hatten, schlug er ein im Rondraglauben bekanntes Zeichen für die Schwertlilie, und sprach dann leise, mit sehr schüchterner, bittender Stimme "Herrin Lavinia, barmherzige Mutter, Spenderin allen Lebens, und Behüterin aller Seelen. Ich bin ein Fremder in diesen Landen, ein Sünder gar in deinen Augen, kein Mann der friedvollen Duldsamkeit, sondern einer, der für die Schwachen zur Gewalt greift, wenn sie sich nicht selbst erwehren können. Fern bin ich der Heimat meiner Väter, fern dem Haus meines Blutes, fern den Gefilden, wo man meinen Göttern das Lob singt. Was ich erbitte, erbitte ich nicht für mich. Ich erbitte es für einen Gefallenen... einen Freund und Gefährten, meinen Lehrer... einen Mann den ich halte wie meinen Vater. Ich bitte dich, barmherzige Herrin Lavinia, sieh mit Wohlwollen auf mein Ansinnen, ihm zum Gedenken in deinem Hause, unter deinen Augen, das Andenken zu sprechen."
Kurz schwieg er, wie um zu ergründen, ob sie ihm ein Zeichen senden würde. Dann wandte er sich den Anderen zu und sprach ruhig weiter. "An diesem Tage jährt sich der Tod meines ersten Rittervaters zum zwanzigsten Male. Schillhard war ein Mann ohne Fehl und ohne Tadel. Er war ein Beispiel an Ehrenhaftigkeit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Mut und Tatkraft. Wer zu ihm kam, der wurde nicht fortgeschickt, wer seine Hilfe erbat, und rechtschaffenen Ansinnens war, der wusste in ihm einen Verfechter seiner Sache. Sein Leben war eines, dem viele junge Männer wie ich versuchten nachzueifern. Als mein Vater ihn bat, mich zu sich zu nehmen und mich zu einem wahren Ritter zu machen, und er einwilligte, war ich mir sicher, mein Lebensweg wäre von diesem Tage an geschrieben und er würde etwas Gutes bedeuten. Ich ging von zu Hause fort, und fand in ihm meine neue Familie. Mit starker Hand, strengem Auge und beflissenem Wort formte und erschuf er mich neu, um in dieser Welt eine Tradition fortzuführen, auf der sich die Sicherheit und das Glück vieler gründen würden."
Kurz drohte seine Stimme zu brechen, doch atmete er tief durch, und fuhr fort zu berichten. "Schillhard, du sagtest mir einmal `Es gibt immer eine Klippe, die noch niemand erstiegen, es gibt immer einen Strom, den noch niemand durchschwommen, es gibt immer einen Feind, den noch niemand bezwungen. Doch ob Klippe, ob Strom, ob machtvoller Feind, wir sind die Klinge, die Rondra selbst führt! Wir sind der Stahl, den sie in heißer Lohe schlug, wir sind die Schneide, die sie funkensprühend schärfte. Wenn dein Herz bebt im Angesicht des Feindes, lass es beben, wenn die Furcht dich wie Fieber befällt, lass sie brennen, heiße das Beben willkommen, entfache die Fieberhitze zur Glut, denn es sind dieselben Kräfte, mit denen Rondra uns formte!´ Heute weis ich was du mir damit sagen wolltest, und ich bin dir zutiefst dankbar. Es tut mir so unendlich weh, dass ich dir in der Stunde deiner größten Not nicht helfen konnte... die Wunde war einfach zu schrecklich, zu tief. Und du bist mir durch die Finger geglitten... ich konnte dich nicht festhalten. Frieden finde ich in der Gewissheit, dass Rethon deine Taten gewogen hat, und dass deine Taten deine Sünden um ein vielfaches aufzuwiegen vermochten. Eines Tages werden wir uns vielleicht wieder sehen. Ich werde dich niemals vergessen."
Eine einzelne Träne rann ihm die Wange hinab, und er wandte sich mit schmerzerfüllten Blick wieder dem Schrein der Lavinia zu. "Herrin Lavinia, ich danke dir für die Gnade deiner Gunst, mich unter deinem Dach verweilen zu lassen. Ehre sei dir, und Ehre deinen Dienern." Mit diesen Worten begannen die Lichttaler die Kapelle zu verlassen, und Berengar schwieg, bis sie alle zusammen hinaus getreten waren. Er gürtete sein Wehrgehänge, nahm den Becher und die Flasche, und goss sich voll ein. "Auf Schillhardt von Rechenberg, meinen Freund und geliebten Vater im Geiste." Er nahm einen kleinen Schluck, und gab den Becher an Isabeau weiter.