Vanion blinzelte in die Abendsonne. Nach der Dunkelheit, die durch das Tuch verursacht worden war, taten ihm nun die Augen weh. Unsicher sah er sich um, sah in teils verhüllte, teils unverhüllte Gesichter. Auf den ersten Blick fielen ihm die Wohnstätten nicht einmal auf, so sehr fügten sie sich in die dichte, verschlossene Umarmung des Waldes ein, das sie umgab. Er hatte jede Orientierung verloren, und er fühlte sich unwohl und hatte Angst. Völlig ausgeliefert, im tiefsten Nirgendwo, unbewaffnet und in der Minderheit, in einem Gelände, das niemand von ihnen kannte - was könnte schon schiefgehen?!
Als seine Augen sich wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte Vanion die Gestalt, die neben ihrem Führer war. Rasch verbeugte er sich vor Jules, dann begann er zu sprechen:
"Der Zustand Eurer Tochter ist unverändert, Herr Ritter. Sie spricht einige wenige, wohlbekannte Worte, und scheint mehr zu träumen als zu leben. Aber ihr Herz schlägt kräftig. Doch zunächst, lasst mich meine Gefährten vorstellen."
Nachdem dies geschehen war, fuhr der Knappe fort:
"Wie es gedacht war, haben wir alle die Nachricht von Lorainnes Tod verbreitet. Auf ihren kalten, toten Leib angestoßen, Freunde und Weggefährten belogen, Gerüchte in die Welt gesetzt. Simon de Bourvis hat sich offiziell, getrieben von Trauer um den Verlust seiner ehemaligen Knappin, auf sein Lehen zurückgezogen und unternimmt offen keinerlei Anstrengungen mehr. Im Geheimen jedoch lässt er seine Verbindungen spielen, schubst hier ein Ereignis an und steht woanders mit Rat und Tat den Seinen zur Seite. Flamen Magnus Damian, Spross aus dem Geschlecht der Voranenburger, hat Rache an Roquefort mit Feuer und Schwert geschworen, als er von Lorainnes Tod erfuhr. Kassos Blutklinge, Hohepriester Tiors, wartet nur darauf, seine Wölfe gegen Savaric zu führen. Andere, Pilgerzügler vor allem, haben Kund getan, zu helfen, wie immer sie können, so es gegen Roquefort geht.
Doch alle warten auf Beweise. Alle warten auf etwas Handfestes. Die wenigsten wollen jetzt, wo Engonien wenigstens auf dem Papier befriedet ist, einen Anlass zu einem Bürgerkrieg geben. Daher hält der Chevalier de Bourvis die Füße still, daher wird Kassos zunächst nichts unternehmen. Ich vermag es nicht, Flamen Magnus Damian einzuschätzen, noch weniger weiß ich, wie weit all die anderen, denen Lorainne etwas bedeutet hat, gehen werden.
Also - die gute Neuigkeitet lautet, dass wir nicht allein sind. Follye steht nicht alleine, auch wenn niemand weiß, dass Ihr lebt, Herr Ritter. Doch auch wenn Roquefort vielleicht tatsächlich glaubt, dass Eure Tochter tot ist, so wie er Euch für tot hält, lange werden wir ihm nicht mehr das Gegenteil vorenthalten können. Der Tross mit Lorainne ist auf dem Weg zu Kassos' Burg gesehen worden, und Tratsch verbreitet sich schnell. Auch in der Burg gibt es wohl Diener und Boten, und mögen sie noch so inbrünstig zu Tior beten, er ist nicht der Gott der Verschwiegenheit. Nicht jeder der Eingeweihten hat das Geheimnis für sich behalten können, das ist gewiss. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand davon erfährt, der es nicht wissen sollte. Ysander hier.." - Vanion winkte den Priester heran - "..hat vorgeschlagen, den ursprünglichen, den eigentlichen Plan weiter zu verfolgen. Die Mauern der Löwenburg mögen hoch und dick und breit sein, die Männer, die diese Mauern bemannen, stark und kräftig. Doch nachts, im Dunkeln, ist selbst die beste Wache blind. Der beste Schutz für Lorainne ist keine Burg, keine Männer, und sei es ein ganzes Heer. Der beste Schutz ist Unwissenheit."