Als Vanion den Schankraum betrat, verkniff er sich ein bewunderndes Pfeifen. Das Mädel, das grade Lorainnes Tisch verlassen hatte, sah wirklich umwerfend aus. Doch er dachte nicht einmal ansatzweise darüber nach, etwas zu unternehmen. Lorainne und alle anderen waren in dem plötzlich sehr klein wirkenden Raum, außerdem war er schließlich Knappe. Er grüßte die anderen kurz und überzeugte sich, dass Lorainne grade nichts benötigte, dann fragte er nach einem Becher Wasser, den er auch bekam.
Er kehrte in seine Kammer zurück und ließ sich dort an einem Tisch nieder. Die Reise hatte seine Kleider völlig verschmutzen lassen, auch seine Waffen hatten gelitten. Lorainnes Kettenhemd begann zu rosten, und die Stahlplatten ihrer Brigantine hatten sich durch den dicken Stoff ein wenig nach außen gedrückt. Er seufzte und schloss kurz die Augen, doch der Haufen Arbeit vor ihm wurde weder kleiner, noch verschwand er vollständig. Rasch machte er sich an die Arbeit. Während seine Hände flink den Dreck der Reise ausbürsteten, hier Rost abrieben und dort eine Klinge schliffen, gingen seine Gedanken auf die Reise. Er ging im Geiste seinen Besitz durch und überlegte, welche Dinge er in den Forêt d'Artroux mitnehmen würde und welche nicht. Der Plan machte ihm Sorgen, doch auf der anderen Seite freute sich der Knappe, dass es endlich, endlich einen konkreten Plan überhaupt gab. Irgendwann legte er den Schleifstein aus der Hand. Sein Blick fiel auf die weiße Distel auf grün, vom Schlamm verschmutzt und befleckt. Sanft bürstete er die braune Kruste ab. Der Stoff würde nicht mehr weiß sein, wahrscheinlich würde er das niemals mehr sein. Und obwohl der Distel einige Blätter fehlten, strahlte die Blüte doch schöner und voller denn je. Lorainne kam ihm in den Sinn, und Benjen. Die beiden schienen sich verliebt zu haben, nur ein Idiot (oder ein jüngerer Vanion) würde das übersehen.
Verliebte Menschen tun die dümmsten Dinge aus Liebe zueinander, dachte er kalt. Was würde Lorainne tun, wenn Benjen als Grüner Ritter gefangen gesetzt würde? Was würde Benjen tun, wenn er erfahren würde, dass Savaric Lorainne erneut entführt hatte - und was würde Savaric überhaupt davon abhalten, ebendieses zu tun? Zahlreiche Bedenken durchfuhren Vanions Geist. Er wägte jedes Für und jedes Wider ab, und am Ende fand er, dass der Plan nicht der sicherste und beste sein mochte, aber doch derjenige, der die höchsten Aussichten auf Erfolg mit dem geringsten Risiko für alle bot.
Doch ein seltsames Gefühl blieb. Es war fast nicht greifbar, aber Vanion gab sich alle Mühe, herauszufinden, worum es sich handelte. Dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Benjen und Lorainne verhielten sich beide wie ..verliebte Gockel. Sie stachelten sich auf, schlugen aufeinander ein, und dann sagte jeder zu sich selbst, wie sehr er den anderen doch brauchte. Das war offensichtlich. Doch irgendwie schafften sie es nicht, sich das gegenseitig zu sagen.
Vielleicht haben sie's sich ja schon gesagt, Meister Bachlauf. Du bist ja nicht in ihrem Schlafgemach. Vielleicht..
An dieser Stelle untersagte sich Vanion, weiter in diese Richtung zu denken. Das Problem war schließlich ein ganz anderes: wenn Lorainne und Benjen sich so voneinander abhängig machten, wer garantierte dann, dass so etwas wie mit Silas vor ein paar Wochen nicht erneut geschah? Im Krieg starben Menschen, und jeder Tote war jede geweinte Träne wert und noch mehr. Doch wenn für einen plötzlich alle ihr Leben wegwarfen, wo führte das hin? Einen solch gefährlichen Plan mit teils unabwägbaren Risiken durchzuführen, das erforderte Disziplin und die Sicherheit, sich aufeinander verlassen zu können. Ich seh's kommen: Benjen wird überwältigt. Lorainne stürmt vor, ihn zu befreien. Ich stürme vor, um Lorainne zu helfen. Anders stürmt vor, Silas, und, und, und. Am Ende sind wir alle tot oder gefangen.
Mit geübten Handgriffen räumte Vanion seine Kleider und Lorainnes Rüstungsteile auf. Er legte eine einfache grüne Tunika an und gürtete sich, dann verließ er seine Kammer. Er musste mit jemandem sprechen.