"Also, du hast diese Schüssel schweben lassen?"
Die sonst so laute, raue Stimme klang auf einmal ganz sanft, wohlwollend, interessiert.
"Ja! Also, den Teller. Keine Schüssel."
Die Stimme, die grade aus dem Stimmbruch war, klang aufgeregt und begeistert.
"Ich hab's genau gespürt! Es war wie ganz viele kleine Adern, die durch den Boden, die Luft, die Bäume pulsierten! Wirklich! Und dann hab ich irgendwie hineingegriffen, die feinen Äderchen zusammengefügt, bis ein plätschernder Bach daraus wurde. Und dann hab ich einen Damm gebaut und immer mehr hat sich angestaut, und dann - und dann hab ich's losgelassen! Und dieser Fluss, dieser Strom hat dann den Teller empor gehoben und fliegen lassen!"
Rikhard zittert immer noch. Er fühlt sich leer, erschöpt, schwach, aber gleichzeitig ist er gradezu euphorisch. Als sei der den ganzen Tag in hoher Geschwindigkeit gelaufen! Nun ist es Abend, und der Zwischenfall ist wenige Stunden her. Seitdem sitzt er mit Grolf zusammen.
"Adern? Kein Tier? Bist du sicher? War es nicht der schnelle Flügelschlag eines Bussards oder eines Habichts, der dich getragen hat? Waren es nicht die Geister, die dir einen Teil ihrer Kraft geliehen haben? Ich rate dir, lass mich dir davon erzählen!"
Doch der junge Rikhard schüttelt den Kopf.
"Nein, hab ich nicht, Grolf. Ich spüre keine Tiere." Er hält inne, dann blickt er den Schamanen neugierig an. "Sollte ich das denn?"
Und Grolf nickt bedächtig.
"Gewiss, gewiss. Magie, weißt du, kommt von den Tieren, von den Geistern der Natur, sie kommt allein und nur daher." Rikhard bemerkt nicht, dass Grolf dabei leicht mit den Augen rollt. Ein aufmerksamerer Beobachter, oder schlicht ein älterer Mann, hätte bemerkt, dass Grolf unsicher ist. Er scheint nicht genau zu wissen, wovon er redet. Doch dem jungen Magier, der sich grade über das Erwachen seiner Gabe freut, fällt nichts auf.
"Ja, in der Tat, so ist es wirklich! Also.. die Kraft der Tiere ist auch die deine, wenn du sie dir zu Nutze machen kannst. Du weißt, darum rufe ich stets die Geister an, und mein Krafttier, der wilde Braunbär, gibt mir die Stärke, die ich brauche, um Krankheiten und Übel vom Dorf fernzuhalten und zu bannen! Du solltest das auch versuchen.."
Unruhig wälzt sich Rikhard hin und her auf seinem Bett. Das Bettlaken ist längst auf dem Boden, er krallt im Schlaf die Finger ins Kopfkissen.
Szenenwechsel. Ein Jahr später.
"Vielleicht bist du ja doch kein Magier, Kleiner!" Grolfs beißende Worte treffen Rikhard. "Versuch es weiter!" Und Rikhard versucht es. Doch bei aller Konzentration, die er aufbringt - er spürt kein Tier. Er spürt keine Geister. Er spürt keine obskure Kraft der Natur. Doch was er spürt, schwach zwar, aber vorhanden, ist das Pulsieren der Adern, die das Land durchdringen. Leise wie ein Vogelschlag im Wald huscht es an ihm vorbei, das Plätschern der Magie. So schwach, dass er es fast für Einbildung hält. Rikhard öffnet die Augen und starrt in die grinsende Fratze des Schamanen. Selbstgefällig und glücklich sieht der aus, und Rikhard hat keine Ahnung, warum.
"Nein, du bist gewiss kein Magier. Vielleicht hat sich ein Geist deiner bemächtigt und diesen Teller fliegen lassen, aber das muss Zufall gewesen sein. Ein schlimmer Fehlgriff einer mächtigen Kreatur."
Szenenwechsel. Mehrere Jahre später.
Immer wiederholt sich das Muster: Grolf erklärt Rikhard etwas, wenn er denn Zeit und Lust dazu hat. Manchmal lehnt Grolf unwirsch und genervt ab. Doch Rikhard klammert sich daran, ein Magier zu sein. Er weiß einfach, dass es so ist. Er gibt nicht auf. Rikhard versucht, den Weisungen zu folgen. Doch nichts funktioniert. Und Grolf wirkt immer zufriedener mit sich selbst. Dem Magier kommen erste Zweifel - doch nicht an sich selbst, sondern an Grolf. An diesem Abend beschließt er, Grolf zu folgen, als der einen Ritus vorbereitet. Es ist eine bedeutende Zeremonie - Feuer, Opfer, Tänze, Gesang, alles für einen sanften Winter und ein gutes Jahr. Gewiss, denkt Rikhard, kann ich ihm etwas abschauen, gewiss gibt es etwas, was er mir noch nicht gezeigt hat!
Endlich erblickt er den Schamanen. Er ist in seiner Hütte am Dorfrand verschwunden, und Rikhard schlägt die Lederhaut, die als Tür dient, beiseite und tritt ein. Grade möchte er sich bemerkbar machen, als er sieht, wie Grolf an einem Tisch mehrere Pülverchen mischt. Er zerstampft einige Samen, mischt rötliches Pulver mit einer dickflüssigen, braun-goldenen Flüssigkeit. Harz? Dabei murmelt der Schamane unablässig vor sich hin, was genau, kann Rikhard nicht verstehen. Nun steht der junge Mann schon eine Minute hier - und hat ein schlechtes Gewissen. Was, wenn Grolf ihn bemerkt? So leise er kann, verlässt er die Hütte wieder. Er ist enttäuscht. Keine magischen Spielereien, nein. Nur irgendwelche Kräuter und Pulver. Wie bei diesen reisenden Schaustellern, die vor einem Jahr in der Gegend waren...
"LÜGNER! LÜGNER UND BETRÜGER!" Der Ruf schallt durch den Raum. Rikhard hat beobachtet, wie Grolf seine Pülverchen in das Feuer gestreut hatte. Als Grolf vermeintlich die Geister angerufen hatte, da hatte Rikhard keine Veränderung in den Adern gespürt, die ihn umgaben. Nichts! Aber dafür hatte das Feuer begonnen, blau und grün zu lodern. Das Pulver! Am nächsten Morgen war Rikhard in Grolfs Hütte gegangen und hatte den Schamanen geweckt. Der Geruch schalen Bieres erfüllt die Hütte; Grolf hat sich offensichtlich am Vorabend, nach dem Ritus, noch betrunken. Nun steht der Hochstapler mit blutunterlaufenen, müden Augen vor dem aufgeregten, wütenden Rikhard, der ihn anschreit. Erste Stimmen regten sich draußen, doch Rikhard brüllt weiter, packt Grolf an den Schultern und schüttelt ihn. "ICH BIN KEIN MAGIER, SAGST DU?! DU HAST MICH IN DIE IRRE GEFÜHRT, MIR VIER, FÜNF JAHRE MEINES LEBENS GESTOHLEN!"
Rikhard hat zwei und zwanzig Winter erlebt. Die letzten Jahre hatte er sich fast damit abgefunden, kein Magier zu sein. Hatte Grolfs Worten Glauben geschenkt, naiv, wie er gewesen war. Doch diese Blase ist geplatzt, diese sorgsam von Grolf aufgeschüttete Mauer ist eingerissen. Nun sieht Rikhard den Schamanen als das, was er in Wirklichkeit ist: ein stinkender, saufender Hochstapler, der sich auf Kosten des Dorfes ein gutes Leben macht. Rikhard hört, wie die Lederhaut an der Tür zurückgeschlagen wird. Schlagen. Ein gutes Stichwort. Er holt mit der Linken weit aus und schlägt Grolf ins Gesicht. Einmal, zweimal, dann greift man ihm in den Arm und hält ihn fest.
Wochen später geht Rikhard durch das Dorf. Er tut das nur noch selten. Wo immer er hingeht, stecken Männer und Frauen die Köpfe zusammen und tuscheln über ihn. Er hört Wortfetzen. Missgeburt nennen sie ihn. Verrückt. Wahnsinnig. Von allen guten Geistern verlassen. Von bösen Geistern besessen. Mit Grolf hat er kein Wort mehr gesprochen. Doch verbringt er immer mehr Zeit im Wald, alleine. Nur Kyra leistet ihm manchmal Gesellschaft, doch in letzter Zeit kommt auch sie nicht mehr. Sie hat geheiratet, ist schwanger. Und sich mit Rikhard sehen zu lassen ist schlecht, wenn man auf einen guten Ruf wert legt. Rikhard ist das egal. Er übt. Konzentriert sich. Meditiert. Und von mal zu mal schafft er es besser, die Adern wahrzunehmen.
Er bemerkt den Apfel nicht, der auf ihn zufliegt, bis der ihn am Kopf trifft. Die schon weiche, angefaulte Frucht hinterlässt süßen Schmier in seinem Gesicht. Er zuckt zusammen, schaut sich um - doch niemand ist zu sehen. Er kehrt zu seinem Elternhaus zurück. Dort herrscht Stille. Kaum jemand redet noch.
Auf seinem Bett in Fanada murmelte Rikhard vor sich hin. Er sprach im Schlaf, doch es war kaum zu verstehen. Irgendetwas mit einem Apfel..
"Da ist er! Da ist die Missgeburt!" Laut schallt der Ruf durch das Dorf, mitten in der Nacht. Rikhard ist zurückgekehrt, und der Weg nach Hause führt ihn an der Dorfschänke vorbei. Dort wartet schon ein Haufen Betrunkener auf ihn. Mit knapper Not entkommt er in den Wald.
"NEIN!" Aufrecht saß Rikhard in seinem Bett. Kerzengrade, wach. Um ihn herum ein leichtes Schimmern - er hatte im Schlaf nach der Magie gegriffen, und es hatte sich einiges angesammelt. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich das nun benutzen kann. Es drängte ihn, Möbel zu zertrümmern, seiner Wut und seiner Angst freien Lauf zu lassen, sie zu kanalisieren in - irgendwas!
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An Schlaf war nicht zu denken. Müde geisterte Rikhard durch die Gänge der Akademie. Lange würde er ohne Einschreibung hier nicht mehr nächtigen können. Das Gebäude fühlte sich nachts kalt und leer an, obwohl hinter manchen Türen noch Licht brannte. Er wollte Gesellschaft, aber außer Stella kannte er hier niemanden. Plötzlich fühlte er sich einsam, allein. Ein kalter Zug drang durch die geöffneten Fenster, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Gewiss würde sie hier irgendwo schlafen, wenn sie nicht noch unterwegs war. Aber einfach an Türen zu klopfen war keine Option.