Der Regen wusch Kydora ein wenig die Farbe aus dem Gesicht, wenn auch nicht alles. Darunter befand sich ein durchaus hübscher Mensch, fand Rikhard. Wenn sie nur ein wenig zivilisierter wäre und ordentliche Kleidung tragen würde! Man könnte aus ihr eine respektable, ehrbare Frau machen, nicht so ein kratzbürstiges Barbarenweib.
Die Frage der Silvanajerin brachte Rikhard in Erklärungsnot. Warum genau hatte er das gesagt? Wenn Rikhard ehrlich zu sich selbst war (und das war er meistens), dann stand er ziemlich alleine da. Silvanaja zu verlassen hatte bedeutet, dass er alles, was er bis dahin kannte, aufgegeben hatte. Auch seine Familie und seine Freunde. Kydora kam auch aus Silvanaja, aber im Gegensatz zu ihm war sie dort glücklich gewesen. Zumindest ging er davon aus.
Kurzum, seine Abneigung ihr gegenüber entsprang gar nicht mal so sehr der Tatsache, dass sie den örtlichen Gewohnheiten nachhing, sich in Fell und Fetzen kleidete und ihr Gesicht anmalte, sonder vielmehr - Neid und Eifersucht. Warum war es ihr vergönnt, glücklich aufzuwachsen, während er sich seinen Weg mühsam hatte erkämpfen müssen und vieles dabei hatte aufgeben müssen?
Kydora war gewiss stolz darauf, aus Silvanaja zu stammen, und ehrte und lebte ihre Kultur. Rikhard versteckte sich hinter ordentlicher Kleidung, guten Tischmanieren und auch Höflichkeit, aber er war nirgendwo verwurzelt und hatte keine Heimat, kein Zuhause. Für ihn war Kydora ein Teil der Welt, die ihn verstoßen hatte; eine lebende Erinnerung an den Stumpfsinn, den Aberglauben und die feindselige Dummheit, die ihn vertrieben hatte. Ein Teil von ihm wollte sie am liebsten über Bord werfen. Hab ich das grad wirklich gedacht?! Er erschrak über sich selbst und verbannte den Gedanken ganz schnell wieder in die gehässige, hinterste Kammer seines Kopfes.
Doch ein anderer Teil von ihm wollte einfach mit Kydora sprechen. Sie kennenlernen, feststellen, dass seine Heimat nicht nur aus tumben Männern und abergläubischen Frauen bestand. Dieser Teil hatte wohl eben gesprochen, und nun saß er in der Patsche.
"Also.." Er stotterte und sah zu Boden. Wie sprach man so etwas aus? Als er neben ihr gestanden hatte und sie gemeinsam auf das Meer geschaut hatten, hatte er das Gefühl gehabt, etwas mit ihr geteilt zu haben. Beide waren fasziniert von den Wellen, von der Kraft, von der puren Masse des Wassers gewesen. Beide hatten sie Angst, im Meer unterzugehen, auch wenn Kydoras Angst deutlich stärker war als die seine.
Etwas miteinander teilen.. Ein schönes Gefühl, an und für sich. Nicht nur neutrales, trockenes Wissen. Sondern eine Emotion. Teilen hatte mit Vertrauen zu tun, und Vertrauen war etwas, was Rikhard niemandem schenkte. Nicht, wenn es um Persönliches ging, nicht, wenn es um seine Emotionen ging. Stattdessen konzentrierte er sich stets auf das Fachliche, auf die Kenntnisse des Arkanen, auf die zahlreichen Bücher, die er las, wann immer er sie in die Finger bekam. Sie ist ohnehin wie die anderen, gib nichts drauf. Irgendwann kehrt sie dir den Rücken zu, wie alle anderen bisher auch. Freundschaft und Nähe ist was für Kinder. Du bist erwachsen, also verhalte dich auch so!
Nun drückte er den Rücken durch. "Wir teilen die Faszination für die See, nicht wahr? Für die Kraft, die darin liegt, für die Urgewalt des Meeres. Wie kommt es, dass es so ist? Du bist in Silvanaja aufgewachsen, ohne Salzwasser. Und du hast Angst, ich seh's dir doch an. Trotzdem überwindest du dich, einfach nur für diesen Anblick."